Ein Jahresrückblick im Film

Was bewegt sich auf den Leinwänden der Kinosääle 2013? Hat es auch uns bewegt? Eine Orientierungshilfe jenseits des Mainstrams. Die Familie kränkelt. Die Religion kriselt. Die Finanzwelt ist aus den Fugen. Die Zeiten sind vorbei, wo das Weltbild aus «Welt» und «Bild» zusammensetzte, wie es einst der deutsche Kabarettist Dieter Hildebrandt formulierte – aus Zeitungen […]

Was bewegt sich auf den Leinwänden der Kinosääle 2013? Hat es auch uns bewegt? Eine Orientierungshilfe jenseits des Mainstrams.

Die Familie kränkelt. Die Religion kriselt. Die Finanzwelt ist aus den Fugen.

Die Zeiten sind vorbei, wo das Weltbild aus «Welt» und «Bild» zusammensetzte, wie es einst der deutsche Kabarettist Dieter Hildebrandt formulierte – aus Zeitungen also. Längst macht sich männiglich sein Bild von der Welt auf seinem Touchscreen – bewegt. «Die Welterzeugung besteht – fast immer – aus Zerlegung und Zusammenfügung, häufig aus beiden zugleich – wie im Film – ». So benennt es Nelson Goodman in «Weisen der Welterzeugung».

Ich glaub, ich bin im falschen Film

Die Möglichkeiten, sich ein Weltbild virtuell zu verschaffen sind immer reicher. Unser Bewusstsein ist dabei filmischer geworden. Ein Sonnenuntergang ist heute nicht mehr schön. Er ist schön wie im Film. Wir sind sogar selber Teil dieser filmischen Medialisierung geworden: Wer heute ein Rockkonzert besucht, tut es nicht ohne Kamera. Im Gegenteil. Wer vor einem schönen Bild steht und die Kamera nicht dabei hat, sieht sich um seine Erfahrung beraubt  – Bilder werden festgehalten anstatt gesehen. Die mediale Wirklichkeit verdrängt die Wirklichkeit, die sie einst repräsentierte. Pro Minute werden auf Youtube ca. 100 Stunden Video hochgeladen. Macht pro Stunde Wirklichkeit ca. 6000 Stunden Filmli.

Das Lieblingsthema im filmischen Weltbild 2013: die veränderte Rolle der Frau 

Die Rolle der Frau hat in fast allen Ländern, die bei uns in den Kinos zu Gast waren, die Phantasie bewegt: Dabei ist es nicht mehr die klassische Rollendiskussion, die den Diskurs prägt. Ehe das Erreichen der Gleichberechtigung zu feiern wäre, gibt es offensichtlich auch neue gesellschaftliche Bewegungsmelder:

Überall auf der Welt entdecken zwar nicht nur Frauen das Leben nach 40, aber sie besonders intensiv: nach dem Mutterdasein beginnt ein weiteres Leben. In «Gloria» tanzt sich Paulina Garcia furios aus der Midlife-Krise. In «Elle s’en va» beweist die Deneuve, dass es für Frauen nie zu spät ist auszusteigen. Ebenso tut es Steffi Kühnert in «Eine Frau, die sich traut». Im Mainstream geht das – wenn auch ohne Aussteigen: Leslie Mann beweist in «This is 40» darüber hinaus auch noch, dass Frauen längst die besseren Komödiantinnen sind. Sandra Bullock legt dann mit Melissa McCarthy in «The Heat» gar noch nach: Die beiden liefern den ultimativen Beweis, dass Frauen bald auch die besseren Männer sein werden.

Die Frau und ihre Lebensalter

Auch die Frau im Rentenalter hat Filmemacher wieder bewegt: Sie stellen die Frage nach einem menschenwürdigen, selbstbestimmten Alter – wie es die Mutter in «Rosie» tut. Und noch in zwei weiteren Filmen ist die Mutter im Hintergrund eine treibende Kraft. In «Recycling Lily» lebt der Held der Geschichte ebenso bei seiner alternden Mutter wie auch in der Komödie «Lovely Louise» von Bettina Oberli.

Die Frauen sind in allen Altern selbstbewusster geworden und – neigen zum Bemuttern. Marcel Gisler lässt in seiner «Rosie» eine starke Mutter sich gegen ihren Sohn durchsetzen. Die Söhne entkommen im filmischen Weltbild ihren Müttern nicht so einfach, wie einst ihren Vätern, durch Aufbegehren. Sie werden weit über das Sohnesalter hinaus auch als Männer noch an die Mutterbrust gebunden. In «Child’s Pose» versucht eine Mutter aus der rumänischen Oberklasse ihren Sohn gar aus einem Raserunfall zu klagen.

Generation Sohn

Kinder dieser Generation werden als Projekte ihrer ehrgeizigen Eltern gezeigt (wie zum Beispiel «Like Father. Like Son» aus Japan). Jetzt haben Filmemacher als Söhne (oder Töchter) diesen Prozess umgedreht: Gleich fünfmal haben Schweizer Sprösslinge ihre Eltern abgelichtet, unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen. David Sieveking begleitet einfühlsam seine Eltern durch die Krankheit seiner Mutter in   «Vergiss mein Nicht», Peter Liechti hat eine ganze Generation in seinen Eltern porträtiert. Ramon Giger hat seinen Vater vorgestellt.

Die junge Generation scheint das Interesse an sich selbst verloren zu haben. Sie ist voll und ganz damit beschäftigt ihre prekären Lebensumstände zu organisieren. In «3 Zimmer/Küche/Bad» tun sie das rastlos, durch Umziehen, in  «Frances Ha»  muss eine junge Frau zusehen, wie ihre Luftschlösser sich in schwarz-weisse Luft auflösen. Nur Peter Luisi hat sich in «Boys are us» immerhin an eine Teenie-Komödie getraut, in der fast kein Erwachsener auftaucht.

Ansonsten finden Jugendliche im Kino kaum statt. Man trifft sie zwar in Scharen als Konsumenten der Blockbuster. Aber ein Stoff-Potential ist im Weltbild Film ist mit Jugendlichen nicht auszumachen. Es sind eher die reiferen Jugendlichen, die dramatisches Potential entwickeln. Aber selbst gesellschaftliche Ausbrüche, wie in «The Silver Linings Playbook», sind ganz an den Rand gerückt.

Was bewegen die bewegten Bilder in uns?

Zwei Filme stechen hervor. Sie fassen den Paradigma-Wechsel der Generationen in einer traditionellen Fabel zusammen: Zweimal stehen Familien vor dem gleichen Schicksal. Ihre Söhne sind verwechselt worden. Einmal geschieht das in zwei verfeindeten israelischen und einer palästinensischen Familie. Einmal geschieht das in zwei durch Wohlstand getrennten japanischen Familien. «Le Fils de l’autre» und «Like Father.Like Son» stehen für tradtionelles narratives Kino. Und sie diskutieren beide einen neuen Eigentumsbegriff an unserer Geschichte. Beide führen eine politische Diskussion in einleuchtenden Bildern. Beide vereinen in einem Weltbild die Versöhnung mit dem Teilen. Damit stellen sie sich gegen den breiten Trend der Blockbuster. Dort lässt sich das Weltbild immer wieder ähnlich zusammenfassen: Mit Waffen lässt sich fast alles regeln. Ausser ein menschenwürdiges Leben.

Die neuen religiösen Zuspitzungen

Die Religion hingegen schien den Film auch in diesem Jahr zu beschäftigen. Der religiöse Fundamentalismus hat demnach zugenommen, nicht nur im Islam. So werden wir Zeugen einer christlichen Zurichtung (nach dem Roman «Die Nonne» von Diderot). Ebenso dürfen wir einer Liebes- und Leidensgeschichte im rumänischen Nonnenkloster beiwohnen, das in einem Exorzismus-Revival gipfelt. «Beyond The Hills» markiert auch eine neue Auseinandersetzung mit dem christlichen Fanatismus. Gleichzeitig fällt hier auf, dass auch die sensible Auseinandersetzung mit der Religion von den Frauen geführt wird: In «The Patience Stone» etwa, definiert eine Frau, neben ihrem Mann im Koma, nicht nur ihre religiöse Rolle neu, sondern vermag auch Kraft ihrer sinnlichen Geständnisse, die geschlechtlichen Dogmen zu entschärfen.

Die Familie ist längst nicht mehr eine Dreipersonenhölle. Sie ist ein Zehnpersonenfegefeuer.

Im Gegensatz zu früheren Jahren steht im Film der erweiterte Familienbegriff. Die Auffassung, dass Frauen am gesellschaftlichen und familiären Leben zu kurz kommen, scheint im Film weniger Niederschlag zu finden als ein erweiterter Familienbegriff: Zumindest sind es die Frauen, die ihre Rollen erweitern, gesellschaftlichen Mut zeigen, oder ganz einfach die besseren Väter sind.

Dafür kommen die Männerbilder zunehmend abgewirtschaftet daher: Arnold Schwarzenegger vermag höchstens noch Rentnern Mut zu machen. Das Männer-Kino hat immerin seine zynischen Erzählformen weiter entwickelt: Geistreich und in brillanter Genre-Manier entwickelt Quentin Tarantino das Erzählkino weiter. Die Helden sind Mythen verpflichtet, wie «Freiheit» oder «Musik», wie in Jim Jaramuschs «Only Lovers Left Alive». Von politischem Widerstand ist nirgends die Rede.

Politischer Diskurs aber ohne politischen Film

Soziale Aufstände oder gar Freiheitskämpfe tauchen im Film höchstens als Vergangenheitsbewältigung auf. Nur Pablo Larrain hat in seinem «No! No!» eine kleine, feine Geschichtslektion zum einzigen unblutigen Sieg der Demokratie über eine Militärdiktatur vorgestellt, und einen Farbtupfer von Widerstand ins filmische Weltbild gesetzt. Im Video-Look von damals. Ansonsten döst das politische Kino.

Selbst das zunehmend illegale Gebaren der Finanzindustrie findet kaum dramatischen Eingang ins Weltbild. Kassenschlager wie «Wall Street» oder «The Bonfire of Vanities» sind längst Geschichte. Ausgerechnet einer der grösste Gefahrenherd für die globale Sicherheit scheint sich den narrativen Formen zu entziehen: Mit «Master of Unviverse» wagte sich immerhin ein Dokumentarfilmer an den Stoff, aus dem die Geldträume sind. Darin kommt ein ehemalige Banker zu Wort. In «Le Capital» variiert Altmeister Costa-Gavras altbacken den Brecht- Satz: «Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?»

Hätte jemand in diesem Jahr nur Filme gesehen, er hätte keine Ahnung von der Prozessflut in den Finanzmärkten.

Hingegen fände er immer mehr Künstler (und Marktstrategen), die jährlich mehr und mässigere Filme liefern.  Jim Jaramusch formuliert es so: «Es gibt kein Orignial mehr. Also nimm alles, was dich inspiriert, oder deine Imagination beflügelt. Verschling alte Filme, Musik, Bücher, Malerei, aufgeschnappten Konversationen, Architektur, Strassenschildern, Bäume, Wolken, Licht und Schatten. Wenn du das tust, wird deine Arbeit (und dein Diebstahl) authentisch sein!» Jaramusch, der seit Jahren seinen ganz eigenen Stil pflegt, verweist dabei auf den Altmeister Jean-Luc Godard: «Nicht wo du die Dinge herhast, ist entscheidend, wo du sie hinführst.»

So bleibt denn das Bild der Welt im Film wohl eher lückenhaft und – nicht fehlerfrei …  

 

 

 

 

 

 

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