Wo ist die gute alte Schweizer Solidarität hin, Frau Philosophin?

Die Rentenreform 2020 ist an der Urne gescheitert, die Journalisten streiten sich angesichts der No-Billag-Initiative darüber, wer am meisten schuftet, und die Konsumenten, welche SRF-Programme sie nie sehen und ergo nicht zahlen wollen. Und Flüchtlingen mag man knapp noch Nothilfe gönnen. Hat die Schweiz verlernt, solidarisch zu sein? Das wollten wir von der Philosophin Annemarie Pieper wissen.

Annemarie Pieper: «Man müsste einen ganz neuen Typ von Gesellschaft aufbauen.» (Bild: Eleni Kougionis)

Annemarie Pieper, wie steht es in der Schweiz um den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Ich habe das ungute Gefühl, da fällt etwas auseinander in der Gesellschaft. Und zwar weltweit. Die EU bröckelt, England steigt aus, und in Amerika kommt ein Donald Trump daher. Ich finde es merkwürdig, dass ausgerechnet steinreiche Leute auf eine derart breite Akzeptanz stossen.

Das gilt auch für die Familie Blocher. Sie wird irgendwie nicht als Teil der Elite wahrgenommen.

Früher waren wir eine Klassengesellschaft. Da gab es die, denen es gut ging, das war der Adel. Und auf der anderen Seite, ganz weit zurück, gab es sogar Sklaven. Aber wenigstens wusste man, wo man hingehört, und hatte ein Wertesystem, das innerhalb der eigenen Klasse galt. Heute weiss man nicht, ob man im Zweifelsfalle Hilfe bekommt. Die Individuen werden allein gelassen.

Die sogenannte Eigenverantwortung. Ist es schlecht, wenn man für sich selbst schaut?

Historisch betrachtet ist das eine Folge der Aufklärung. Sie hat uns emanzipiert und Autonomie gebracht. Jeder ist frei, selbst zu bestimmen, das ist in den Menschenrechten festgehalten. Aber, das wird oft vergessen, dieser Freiheit steht auch eine Verantwortung gegenüber: Was immer ich tue, muss ich auch denen gegenüber verantworten, die davon betroffen sind.

Tun wir das nicht?

Nein, heute pochen viele nur noch auf ihr Recht, im Sinne von: Das steht mir zu. Der Staat soll für tolle Strassen sorgen, aber wenn deswegen die Steuern steigen, wird gemeckert. Wir kaufen T-Shirts für 9.90 und fragen uns nicht, unter welchen Arbeitsbedingungen sie hergestellt werden. Dabei verschleudern wir grosszügig Ressourcen, und die, die nach uns leben, müssen dann damit zurechtkommen. Das «wir» ist inzwischen nur ein Störenfried.

«Oft wird versucht, die Kinder in Richtung Homo oeconomicus zu steuern, damit sie später Karriere machen.»

Wo ist das «Wir» hin?

Ich glaube, Autonomie bringt das mit sich. Früher verstand man die Autonomie politisch: Sie bedeutete, dass sich ein Staat selber verwaltet und sich keine ausländische Macht einmischen darf. Diese Autonomie hat sich dann vom Staat zur Einzelperson verlagert, die sagt: «Ich habe Rechte.» Das ist das Problem. Ich habe nämlich auch Pflichten. Heute kommt das «Ich» immer zuerst. Die anderen kommen erst, wenn ich das Gefühl habe, die Vernetzung sei mir nützlich.
Annemarie Pieper (76) war von 1981 bis 2001 Professorin für Philosophie an der
Uni Basel. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Ethik – die Analyse, wie Menschen
handeln müssen, damit ein gutes Zusammenleben aller gewährleistet ist.

Sogar Freundschaft wird aufgerechnet.

Das ist eine Folge der Ökonomisierung der Lebenswelt. Sie greift sogar ein ins Familienleben. Eltern sagen den Kindern: «Mach etwas Nützliches.» Wenn ich das nur schon höre! Kinder sollen machen, worauf sie Lust haben. Spielen hat keinen anderen Zweck als zu spielen. Doch oft wird versucht, die Kinder in Richtung Homo oeconomicus zu steuern, damit sie später Karriere machen und gut verdienen.

Für die Existenz der Kinder vorzusorgen, ist das kein berechtigtes Bedürfnis?

So, wie wir jetzt mit Geld umgehen, nicht. Kapital teilt die Gesellschaft, das hat schon Karl Marx gesagt. Wir brauchen ein neues Gesellschaftssystem.

Sehr utopisch.

Vielleicht. Wobei, schauen Sie, was jetzt in China passiert.

Dort hat die Regierung den Markt geöffnet.

Und die Wirtschaftsleistung steigt. Ich glaube, auf Dauer werden sich die Leute nicht mehr mit Hungerlöhnen zufrieden geben. Und wenn die Löhne steigen, werden die billig produzierten Waren teurer. Vielleicht hat das T-Shirt eines Tages den Wert, der angemessen wäre. Und wenn die Waren teurer werden, stoppt das vielleicht auch den Teufelskreis des Wachstums.

Wir müssten nicht noch mehr produzieren und immer noch mehr konsumieren, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Sind Sie realistisch?

Es braucht schon einen Aufstand von der Basis in den sogenannten Drittweltländern, damit sich die alten verkrusteten Strukturen auflösen. Wir kennen das aus dem Mittelalter. Die Bauern mussten früher einen grossen Teil ihrer Ernte an den Adel abgeben, dem Grund und Boden gehörte. Langfristig hat sich das ja alles verbessert.

«Der Westen hatte in den letzten Jahrzehnten eine paradiesische Zeit. Jetzt bröckelt das alles.»

Glauben Sie an einen solchen Aufstand?

Ja, gerade in so grossen Ländern wie China oder Indien, wo Menschenmassen unter prekären Verhältnissen leben. Die ehemaligen Bauern, die jetzt in Fabriken schuften und zu zehnt in einem Zimmer hausen, sehen ja, dass andere Menschen besser leben. Massen können etwas bewegen.

Das hoffte man beim Arabischen Frühling auch, der hat aber in Krieg und Terror und in Diktaturen geendet.

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Ich habe als Kind noch den Zweiten Weltkrieg und die Solidarität der Kriegerwitwen mitgekriegt. Sie haben einander geholfen, zum Beispiel die sogenannten Trümmerfrauen in Berlin, die Stein für Stein weggeschafft und alles neu aufgebaut haben. Die heutige Generation kennt solche Verhältnisse nicht mehr. Der Westen hatte in den letzten Jahrzehnten eine paradiesische Zeit. Jetzt bröckelt das alles.

Manchmal wünscht sie sich ein Politsystem à la Platon.

Und was ist mit der Schweiz?

Auch hier müsste man einen ganz neuen Typ von Gesellschaft aufbauen. Das wäre möglich im Zuge der Digitalisierung. Wir können so viel Arbeit an technische Geräte abtreten. Ich habe noch mit der Hand gewaschen und mit der Schreibmaschine geschrieben. Sie können sich gar nicht mehr vorstellen, wie gut Sie es heute haben. Die Wirtschaft muss jetzt ausloten: Was macht man mit den Leuten, die es wegen der Maschinen nicht mehr braucht?

Die Wirtschaft spricht ja gerne von den Patrons, die in den Unternehmen für ihre Angestellten schauen. Gleichzeitig hebeln sie – im Namen der Digitalisierung– den Arbeitnehmerschutz aus.

Familienbetriebe unter den KMU schauen für ihre Angestellten. Aber Grosskonzerne kennen ihre Mitarbeitenden gar nicht mehr richtig. Vor vielen Jahren sollte ich Novartis-Managern mal in einem Ethikkurs beibringen, wie sie sich verhalten müssen, damit sie besser akzeptiert werden. Damals demonstrierten die Angestellten gerade gegen dieses «immer mehr und immer schneller».

Hatten Sie Erfolg?

Nun, die haben sich vorgestellt, dass ich ihnen in einem Crashkurs von zwei, drei Tagen beibringe, wie sie mit dem, was sie bereits machen, fortfahren können, nur unter einer anderen Maske. Die Tünche sollte ethisch aussehen, ohne dass sie ihr Verhalten ändern mussten. Nach einem Tag bin ich gegangen und habe gesagt: «Das hat gar keinen Zweck, ihr habt Beton im Kopf. Da ist alles schon vorher schiefgelaufen.»

«Schon Fünfjährige realisieren, dass man bei manchen Problemen zwischen zwei Übeln entscheiden muss.»

Die TagesWoche hatte kürzlich eine grosse Recherche über das Leistungsprinzip in der Schule gemacht. Kinder haben Depressionen, weil sie so auf Leistung getrimmt werden. Die Botschaft: Ihr könnt es euch gar nicht leisten, aufeinander zu schauen, weil ihr sonst untergeht.

Ich wünschte mir ein Bildungssystem, in dem bereits Kinder im Kindergarten Ethik lernen. Das ist nicht abgehoben, es geht um das Selbstverständnis in der Welt. Dass man immer bedenkt: Da sind auch noch andere ausser mir – und wenn ich etwas tue, wirkt sich das vielleicht auf sie aus, denen muss ich Respekt entgegenbringen. Eigentlich genau das, was in der Erklärung der Menschenrechte drinsteht.

Würde eine solche Ausbildung wirklich etwas ändern?

Ich habe Ethikkurse für Kinder veranstaltet, sie verstanden sogar Dilemmata-Erörterungen. Schon Fünfjährige realisieren, dass es bei manchen Problemen  keine guten und schlechten Seiten gibt, sondern man sich zwischen zwei Übeln entscheiden muss. Und dass man deshalb Argumente finden muss, warum das eine das kleinere Übel ist.

Ich habe das erst Ende 20 richtig realisiert.

Kleinere Kinder verstehen das. Ich habe aber Beschwerden von Eltern bekommen, sie hätten Streit gehabt und der Sohn sei dazwischen gegangen. Er sagte: «Ihr habt nur behauptet, ohne zu begründen, das darf man nicht.» Andere Mütter haben sich beschwert, dass die Kinder kein Schweizerhochdeutsch mehr sprechen. Das sei negativ für die Karriere später.

Nein!

Doch. Sie hatten Angst, man höre den Kindern das Schweizer-Sein nicht mehr an. Die Schweiz liegt ja mittendrin in Europa, zu dem sie nicht gehören möchte. Und ich glaube, irgendwann wird dann mal klar, dass man auf die Solidarität mit den Anrainern angewiesen ist. Mit der Polizei und der Feuerwehr funktioniert das bereits. Die gehen in Notfällen hin und her über die Grenzen zwischen der Schweiz und der EU.

Ansonsten sind die Grenzen aber heute nur für Privilegierte offen.

Ja, das ist ja das Problem! Bevor die Flüchtlinge kamen, waren die Grenzen einfach offen. Kürzlich ging wieder ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer unter. 200 Menschen starben. Ein Mann sagte zu mir: «Gut, dann müssen wir sie nicht versorgen.» Dieser Zynismus!

Wo kommt der her?

Die Leute haben Angst, dass sie zu viel abgeben müssen. Es macht auch keinen Sinn, Millionen Menschen hierher zu holen. Ich glaube, es gibt zwei sinnvolle Strategien für das Flüchtlingsproblem.

Welche?

Die erste hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga angekündigt. Sie will Flüchtlingsfamilien aus Libyen hierher holen. Das finde ich eine gute Idee, dass man nicht nur junge Männer ohne Perspektive hierher holt, sondern gezielt Leute, die in einer besonders prekären Situation leben, oder Fachkräfte, die wir brauchen. Zweitens: Vor Ort helfen. Aber das packt niemand richtig an, das kostet einen Haufen Geld. Manches scheint mir unklug, was die Politik macht.

Was denn zum Beispiel?

Wenn Sie zum Beispiel hier ins Krankenhaus gehen, da sind fast nur deutsche Ärzte und Pflegerinnen. Und gleichzeitig hat die Schweiz einen Numerus Clausus für Mediziner, sodass man nicht aus den eigenen Reihen die Ärzte rekrutieren kann. Da verstehe ich die Animositäten gegen die Deutschen.

«Platon sagte ganz richtig: Die grosse Masse ist beeinflussbar, sie entscheidet nicht vernünftig nach richtig und falsch.»

Ich verstehe nicht, weshalb die Leute sich über die deutsche Pflegerin nerven, die ihnen den Verband anlegt, statt über die Politik.

Die Kritik geht einfach an die falsche Adresse. Gemeint ist das System, und das ist ein ökonomisches, das geht nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten. Sie schliessen heute eine Ehe nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten. Und Kinder werden zum Kostenfaktor. Wenn die privatesten Lebensverhältnisse auf der Basis von Geld geregelt werden, darf man sich nicht wundern, wenn jeder denkt: «Make money and the winner takes it all.»

Aber es ist nicht alles schlechter als früher. Wir haben weniger Armut im Westen, eine geringere Kinder- und Müttersterblichkeit …

Klar, trotzdem wurden Menschen immer in ungerechten Verhältnissen übervorteilt. Demokratien sind auch nicht besser.

Nicht?

Wenn ich jetzt sehe, wie in Deutschland bei der Jamaika-Koalition so junge, aufgeblasene Ich-Köpfe auftreten und sagen: «Ja, ich als verantwortungsbewusster Mensch will alles besser machen.» Da kommen bei mir die Fäkalausdrücke hoch. Die verkörpern den modernen Typ von Machtmensch. Denn eigentlich gehts nur um sie, sie wollen Karriere machen. Da lobe ich mir meinen alten Platon, der war ja gegen die Demokratie.

Der wollte ein Profi-Politikerzirkel, der bestimmt.

Platon sagte ganz richtig: Die grosse Masse ist beeinflussbar, sie entscheidet nicht vernünftig nach richtig und falsch. Politiker absolvierten bei ihm eine 30-jährige Ausbildung, in der sie lernten, wie man das Allgemeinwohl vor Augen behält, ohne Macht anzustreben und sich korrumpieren zu lassen. Heute kann jeder Idiot Politiker werden.

«Wir müssen uns überlegen: Welche Welt hinterlassen wir denen, die nach uns kommen?»

Wieso wählen wir Idioten?

Wir bewundern extrem reiche Leute. Viel Geld macht ungeheuer mächtig und einflussreich. Das uralte Herrscher-Ideal, Dinge zu steuern, indem man anordnet und andere zu gehorchen zwingt, spukt noch in vielen Männerköpfen herum. Das ist das alte Herren-Sklaven-System. Ich meine, ein normaler Bürger wird bestraft, wenn er keine Steuern zahlt, und verliert seinen Job, wenn er schlecht arbeitet. Banker bekommen noch einen goldenen Fallschirm, wenn sie Fehler machen.

Kein Wunder gibts keine Solidarität, wenn das die Eliten nicht vorleben. Aber dem müsste man sich ja nicht unterwerfen als Normalbürgerin.

Sich aufzulehnen braucht Kraft. Wenn Sie etwas ändern wollen, müssen Sie in die Machtzentralen gehen.

Also wollen Sie die Demokratie gar nicht abschaffen?

Nein. Man muss die Interessenverbände schon an einen Tisch setzen. Aber wenn Politiker und Wirtschaftsbosse geradestehen müssten, für das, was sie ausgehandelt haben, und für schlechte Konsequenzen nicht noch belohnt würden, wäre das schon ein Ansatz. Wir müssen uns überlegen: Welche Welt hinterlassen wir denen, die nach uns kommen?

Sind Sie trotzdem optimistisch?

Nicht immer, aber schauen Sie sich an, wieviel Freiwilligenarbeit es in Basel und der Schweiz gibt. Oder wie in manchen Quartieren die Nachbarschaftshilfe noch funktioniert. Man darf nicht vergessen, wie viele Leute einander täglich helfen.

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