Ruhe ist Luxus, ein umkämpftes Gut im urbanen Raum. Und mit zunehmender Verdichtung wird sie noch schwerer zu finden sein. Doch es gibt einfache Tricks, um den Lärm einzudämmen. Ein Rundgang durch die Stadt.
Noch besser als Pilates oder Yoga: Theaterspielen macht glücklich
Der Tag unserer Autorin begann mit wenig Schlaf und schlechter Laune. Doch nach einem «Morgentraining» bei Schauspielerin Julie Bräuning sah das Leben ganz anders aus.
Am Anfang bin ich mir peinlich. Vor mir steht die Schauspielerin Julie Bräuning, dunkle Haare, T-Shirt, Jeans und was sie von mir fordert, ist bubieinfach, braucht aber Überwindung: «Mach ein Geräusch und beweg dich durch den Raum. Mach einfach, ohne zu überlegen.»
Das macht mir ein bisschen Angst. Im Alltag gibt man sich solche Mühe, Haltung zu bewahren, hier muss ich sie aufgeben. Wer weiss, was da aus mir rauskommt, wenn ich nicht aufpasse: Singen, quietschen oder, noch schlimmer: prusten, gackern, schnauben?
Es ist Donnerstag Morgen, draussen brennt die Sonne, hier unten ist es kühl und still. Wir sind im Untergeschoss des Kulturraums h95 an der Horburgstrasse: Parkettboden, Fenster ganz zuoberst an der hohen Decke, schwarze Metallsäulen, ein Piano. «Morgentraining» bei Julie Bräuning.
Die Baslerin hat Schauspiel an der Theater Hochschule Zürich studiert, unter anderem am Schauspielhaus Bochum und am Deutschen Theater Berlin gespielt. Jetzt lebt sie wieder in Basel – und baut eben das Morgentraining auf.
Zwei Mal pro Woche bietet sie zwei «Morgentrainings» an, wie es nennt, basierend auf Grundelemente aus der professionellen Schauspielarbeit – Körperarbeit, Stimm- und Sprechtraining sowie Improvisation. Einmal für Profis, einmal für Laien, «um die spielerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern», wie Bräuning auf ihrer Internetseite schreibt. Und um sich «lebendig, wach, beweglich und weit zu fühlen».
Eine Studienkollegin pries das Training auf Facebook an, ich wollte da hin. Seit der Pfadi habe ich nie mehr Theater gespielt, fand das Spielen immer faszinierend und beängstigend zugleich.
Und jetzt bin ich also hier, nervös. Und dann steht da auch noch die Fotografin mit gezückter Kamera. Julie Bräuning merkt es, sagt zu mir: «Probier es einfach aus, dier wirst du nicht bewertet, es geht nicht darum, etwas richtig zu machen.» Zuerst sperre ich mich dagegen, dann denke ich: «Ach, mach es einfach wie zu Hause.» Vor meinem Kind ist es mir nicht peinlich, wie ein verrückter Güggel durch das Haus zu watscheln.
Also öffne ich meinen Mund, nehme Anlauf und mache, was grad rauskommt: Ich wackle durch den Raum, lass Arme und Beine schlenkern und lasse meine Stimme sirenenartig in die Höhe gleiten: «Au-wiiiiiiiii.» Julie folgt mir, im Gleichschritt durchqueren wir den Raum, drehen eine Runde um die Metallsäule.
Alle Scham ist weg, dafür kommt die Freude. Sie fährt in die Zehenspitzen, geht durch die Beine und rauf in den Bauch und weiter, bis ich bis in die Ohren voll bin davon. Wow!
«Ich gebe nicht gerne Kontrolle ab», habe ich Julie Bräuning zur Begrüssung gesagt. Doch das erweist sich als eine kolossale Fehleinschätzung. Als der Knopf erst mal auf ist, ist er auf.
Julie hat im Raum Stühle aufgestellt, fordert mich auf, jeweils einen auszuwählen, anzuvisieren und dann draufzusitzen. Ich fokussiere einen Stuhl, setze mich drauf. Als nächstes mache ich es mir auf der Treppe bequem, doch Julie setzt sich eine Stufe über mich. Fühlt sich an, wie wenn du auf einem Bänkli am Rhein chillen willst und eine Fremde setzt sich neben dich. Also fliehe ich weit weg auf die andere Seite des Raumes, unter den Flügel. Doch Julie folg, setzt sich voll in meine Nähe. Ich fliehe wieder, nehme einen Stuhl, drehe mich zur Wand.
So wird aus einem Spiel mit einem Stuhl plötzlich ein Spiel mit Julie. Jeder Schritt ist ein Schritt zu ihr hin oder einer weg von ihr, als wären wir mit einem Band verbunden, obwohl wir uns nicht kennen. In dieser Spannung entstehen plötzlich kleine Szenen.
Und so esoterisch es klingen mag: Da kommt eine Energie, die beflügelnd ist. Ich bin schlecht gelaunt und mit Schlafmanko gekommen. Jetzt bin ich heiter und wach.
Es ist Kraft des Spielens, eine Kraft, die Julie gut kennt: «Wenn ich jeweils als Schauspielerin arbeite oder Trainings anleite, bekomme ich eine Energie, die nachher den ganzen Tag anhält.» Irgendwann merkte sie, dass sie nicht die einzige ist, die sich beim Spielen so lebendig fühlt.
Vor ein paar Jahren begann Bräuning, gemeinsam mit Schauspielkollegen, Theaterprojekte mit Laien zu entwickeln, so genanntes «Bürgertheater». Eines davon hiess «Soll ich jetzt vielleicht weinen?», ein Stück über Arbeit am Düsseldorfer Schauspielhaus, welches Bräuning mit ihrem mann Urs Peter Haller leitete – er ist seit 2015 Ensemble-Mitglied am Theater Basel ist. Für das Stück suchte das Paar über eine Zeitungsanzeige Düsseldorferinnen und Düsseldorfer, die über ihre Erfahrungen in der Arbeitswelt erzählten. Daraus choreografierten sie das Stück, mit den Laien als Schauspielern. Da merkte Julie Bräuning, wie sich die Menschen mit dem Spielen veränderten.
Da war etwa ein Mann, der in Trauer war, und gebückt dastand, mit hängenden Schultern. Mit jeder Stunde spielen ging etwas in ihm auf. Eines Tages richtete er sich plötzlich auf und strahlte über das ganze Gesicht. Julie dachte: «Diese Energie, ich will sie teilen.» So entstand die Idee für das Morgentraining.
Es ist eine Stunde für sich selber, ohne fixes Stück, ohne Bühnenabsicht, ohne Endergebnis. Julie Bräuning will es so: «Im Alltag wird man überall bewertet, das hier soll ein geschützter Raum sein.» Man geht ins Pilates, um sich zu entspannen, damit man nachher wieder leisten mag. Man geht ins Fitnesstraining, damit das Füdli knackig und das Herz kräftig bleiben. Im Morgentraining gibt es nur ein Ziel: Das Spiel. Den eigenen Körper zu entdecken, die Stimme auszuprobieren, sich in der Zeit verlieren.
Klingt nach wenig. Macht aber glücklich.