Sie flüchteten vor Hunger und Tod nach Brasilien, rund 400 ertranken im Atlantik: Vor bald 200 Jahren haben 2006 Schweizer Haus und Hof in der Heimat zurück gelassen. Die Überlebenden gründeten in der Nähe von Rio de Janeiro die Stadt Nova Friburgo. Ein Besuch.
Aeby, Jaccoud, Hildebrand – die Namen der Auswanderer von Nova Friburgo sind auf einer schwarzen Tafel im Museum in der «Casa Suíça» aufgelistet. Rund 2000 Frauen, Männer und Kinder haben vor bald 200 Jahren ihre Heimat in der Schweiz verlassen und in Brasilien ein neues Leben begonnen. Die meisten stammten aus dem Kanton Freiburg.
Weshalb sie aus der Schweiz flüchteten, ist ungeschönt dargestellt. «Suíça, terra de miséria», ist zu lesen – «Schweiz, Land des Elends». Daneben der Tod als Sensenmann, der die Freiburger dahinrafft, und eine in blassen Farben gehaltene Zeichnung mit der Bildlegende: «Gross war die Noth. Es zeigt sich hier eine Familie, von Hunger und Elend entkräftet, unter einem Baum, klagend u. weinend.»
Die «Casa Suíça», das Schweizer Haus, ist ein Chalet – mit Schweizer Fahnen und überdimensionierter, schwarz-weiss gefleckter Kuh-Attrappe in der Einfahrt. Wenig zeugt von den Nöten, welche die ersten Schweizer hierher trieben. Das Unheil hatte sich 1816 angebahnt, dem Jahr ohne Sommer.
In Indonesien war der Vulkan Tambora ausgebrochen, der eine riesige Aschewolke in die Atmosphäre schleuderte und die Temperaturen sinken liess. Durch Kälte und Dauerregen fielen in Europa und Amerika die Ernten aus. Es herrschten Hunger, Armut und Tod. «Menschen grasten nun mit dem Vieh», schrieb der Schweizer Geistliche Ruprecht Zollikofer über das folgende Hungerjahr 1817.
400 Schweizer ertranken
In der Schweiz packten exakt 2006 Menschen ihr Hab und Gut zusammen, verliessen Haus und Hof, um in der Ferne ein besseres Leben zu finden. Die meisten stammten aus ärmlichen Verhältnissen: Gemäss Angaben des Kantons Freiburg waren es 830 Freiburger, 500 Berner, 160 Walliser 143 Aargauer, 140 Luzerner, 118 Solothurner, 90 Waadtländer, 17 Schwyzer, 5 Neuenburger und 3 Genfer.
Ihre Reise führte sie zunächst über Aare und Rhein nach Holland, bevor sie endlich in See stachen: zusammengepfercht auf sieben Schiffen. Bis zu 146 Tage dauerte die beschwerliche Überfahrt über den Atlantik. Rund 400 Auswanderer starben auf See oder ertranken im Meer. Das erste Schiff, die «Daphnée», kam am 4. November 1819 in Rio de Janeiro an.
In Hierarchie bei Sklaven
Die Ankömmlinge waren in ihrer neuen Heimat durchaus willkommen: Die Freiburger Regierung hatte mit dem portugiesischen König Johann VI., der vor Napoleon nach Brasilien geflüchtet war, ein Kolonialisierungsabkommen abgeschlossen. Brasilien verpflichtete sich, die Emigration von 100 römisch-katholischen Schweizer Familien zu finanzieren.
Der Ort rund 130 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt wurde gewählt, weil er für Viehzucht, Milch- und Käseproduktion geeignet schien – eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln auf 850 Metern über Meer. Zu Ehren ihrer Schweizer Heimatstadt tauften die Einwanderer die Gemeinde auf den Namen Nova Friburgo. Offiziell wurde die Stadt am 16. Mai 1818 begründet – dem Tag, als König Johann die Gründung per Dekret bestätigte. Es war die erste nicht-portugiesische Kolonie in Brasilien; sie bereitet sich derzeit auf die 200-Jahr-Feier vor.
Obwohl die Neuankömmlinge von der portugiesischen Krone unterstützt wurden, erging es ihnen nicht viel besser als anderen Migranten in aller Welt. Laut Maurício Pinheiro, dem Direktor des Schweizer Hauses von Nova Friburgo, standen sie in der gesellschaftlichen Hierarchie näher bei den schwarzen Sklaven als bei den portugiesischen Herren. Zudem waren die Bauernfamilien zum Teil nicht richtig ausgerüstet. «Sie hatten die falschen Geräte für das Klima hier», sagt Pinheiro. Viele sattelten deshalb schon bald um und stiegen in die Kaffeeproduktion ein.
Kein Französisch mehr
Heute lebt bereits die 8. und 9. Generation der Auswanderer in der Stadt mit knapp 200’000 Einwohnern. Ihrer Geschichte sind sich längst nicht mehr alle bewusst. «Viele haben Schweizer Namen und wissen nicht einmal, dass sie schweizerisch sind», sagt Raphaël Fessler, der Präsident der Vereinigung Freiburg-Nova Friburgo. Andere sind stolz auf ihre Abstammung. Vor zehn Jahren wurde der Französischunterricht an den Schulen abgeschafft. Gesprochen wird Portugiesisch, die obligatorischen Sprachen an den Schulen sind Englisch und Spanisch.
Allzu viel erinnert auf den ersten Blick nicht an die Schweiz im brasilianischen Freiburg – Strassenbild und Architektur sind typisch für Brasilien. Doch ein Teil der Traditionen ist erhalten geblieben. In der «Casa Suíça» stellt die Firma Frialp Käse her. Etwa 1000 Liter Kuh- und Ziegenmilch aus der Region werden jeden Tag angeliefert und verkäst. Auch Schokolade in Form diverser Sorten Pralinés wird produziert.
Noch immer spielt die Landwirtschaft eine grosse Rolle in Nova Friburgo. Andere Wirtschaftszweige wie die Textilindustrie sind aber längst zu wichtigen Standbeinen geworden. Aeby, Jaccoud, Hildebrand – sie haben hier ein Auskommen gefunden. Die Stadt ist gewachsen, die Bevölkerung hat sich durchmischt, und heute heissen die Entscheidungsträger in Neu-Freiburg Cabral, Santos und Gonçalves.