Fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen in Deutschland weitere mutmassliche NS-Verbrecher mit Anklagen vor Gericht rechnen. Den Beschuldigten wird Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Auschwitz vorgeworfen.
Die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg wolle nach ihren Vorermittlungen 30 Verfahren an Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland abgeben, erklärte der Leiter der NS-Fahndungsstelle, Kurt Schrimm. Die Untersuchungen waren nach dem Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk in Gang gekommen.
Neben den 30 Beschuldigten, die in Deutschland wohnen, haben die Ermittler sieben weitere mutmassliche NS-Verbrecher identifiziert, die im Ausland leben, darunter einer in Israel. Der Aufenthalt von zwei weiteren Beschuldigten konnte noch nicht genauer ermittelt werden.
Ob es zur Anklage komme, hänge von der Einschätzung der Staatsanwaltschaften, der Beweislage und dem Gesundheitszustand der Beschuldigten ab, erläuterte Schrimm. Der älteste Beschuldigte wurde im Jahr 1916 geboren, der jüngste im Jahr 1926.
Schrimm warnte vor überzogenen Erwartungen. «Es kann sein, dass einige Wenige übrigbleiben», sagte er. Er sprach angesichts des Alters der Beschuldigten von einem Wettlauf gegen die Zeit.
Wegweisendes Urteil
Bisher blieben viele mutmassliche Täter straffrei, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden muss. Dies war vielfach nicht möglich.
In den Vorermittlungen für den Prozess gegen den Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, Demjanjuk, hat aber die NS-Fahndungsstelle die Beihilfe zum Mord im KZ neu definiert. Dem widersprach das Landgericht München nicht.
Nach Auffassung der Zentralstelle ist somit jeder belangbar, der in einem KZ dazu beigetragen hat, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte – egal ob direkt als Aufseher bei den Gaskammern oder indirekt etwa als Koch. 2011 hatte das Landgericht München Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28’000 Menschen schuldig gesprochen.
Von Niedersachsen bis Argentinien
Wie Schrimm ausführte, werden nun sechs Fälle an die Staatsanwaltschaften im Bundesland Baden-Württemberg übergeben. Weitere sieben Fälle werden dann in Bayern anhängig sein. Auf Sachsen-Anhalt entfallen zwei Fälle, auf Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen jeweils vier Fälle, auf Hessen zwei Fälle. In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Hamburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gibt es jeweils einen Fall.
Bei den Beschuldigten, die im Ausland leben, sollen die Verfahren dem deutschen Bundesgerichtshof vorgelegt werden, der den Gerichtsstand bestimmen soll. Neben Israel sind Kroatien, Österreich, Brasilien, die USA, Polen und Argentinien betroffen.