5. Internationales Kurzfilmfestival: Behinderung als erschwerte Lebenskunst

Am Mittwoch eröffnet das Kurzfilmfestival «look&roll» mit 23 Film-Trouvaillen, am Samstag ist Preisverleihung. Dazwischen warten spannende Begegnungen auf und neben der Leinwand. Im Programm des «look&roll»-Kurzfilmfestivals gewähren Filme Einblick in die Welt der Behinderung. «look&roll» eröffnet am Mittwoch 19 Uhr mit Gästen, u.a. Nikki Rappl («Vielen Dank für Nichts»). Ab Donnerstag werden 23 Filme zu […]

BRZYDKIE SLOWA

Am Mittwoch eröffnet das Kurzfilmfestival «look&roll» mit 23 Film-Trouvaillen, am Samstag ist Preisverleihung. Dazwischen warten spannende Begegnungen auf und neben der Leinwand.

Im Programm des «look&roll»-Kurzfilmfestivals gewähren Filme Einblick in die Welt der Behinderung. «look&roll» eröffnet am Mittwoch 19 Uhr mit Gästen, u.a. Nikki Rappl («Vielen Dank für Nichts»). Ab Donnerstag werden 23 Filme zu sehen sein. Am Samstag werden um 19.30 Uhr Preise verliehen, und anschliessend werden im kult.kino – in Anwesenheit internationaler Gäste – die Siegerfilme noch einmal gezeigt. Ein Blick in eine Welt, die dem Rest der Welt viel zu sagen hat. 

Zum fünften Mal eine Begegnung der besonderen Art

In der Malerei ist die Leinwand das Medium des Hinschauens  – und des Sichzeigens. Sie ist auch ein Mittel der Reduktion. Im Film über Behinderung ist die Leinwand ein lebendiger Ort der Begegnung, der – für Betrachter und  Betrachtete – eine spannend entspannten Annäherung möglich macht.

Beide Seiten können sich während des 5. Festivals in aller Intimität begegnen, ohne sich entblösst fühlen zu müssen. Das ist die grosse Kunst, welche die 23 Filme schaffen: Sie ermöglichen eine Annäherung, wie sie draussen im Leben öfter stattfinden könnte.  

Bis Samstag bietet sich Gelegenheit, in den kult.kinos Kurzfilme zu sehen, die nicht nur einen Themenschwerpunkt bieten, sondern künstlerische Höhepunkte. Die Filme können nämlich weit mehr, als nur Betroffene zu Wort kommen lassen.

23 kurze Filme machen die Welt aus einem ganz anderen Hör- oder Blickwinkel erfahrbar. Sie nutzen eine andere Wahrnehmung für ihre Kunst. Sie erhellen den Blick und geben den Dingen des Alltags neue Bedeutungen.

BRZYDKIE SLOWA

BRZYDKIE SLOWA

Pjotr,der Meister der feinen Töne und des – Fluchens

So ist Piotr im polnischen Film «Brzydkie Slowa» die dicke Glasscheibe zwischen sich und der Welt vertraut. Piotr ist Tontechniker in einem Aufnahmestudio. Dort hält ein Glas die unschönen Töne fern. Aber für Piotr ist dieser Schallschutz ein ganz anderer Schutz.

Piotr hört feinste Töne. Piotr ist aber auch verliebt. Auf der anderen Seite der Glasscheibe seines Tonstudios steht sie. Kajsa. Er nimmt ihre wunderschöne Stimme auf. Sie hört auch seine Stimme, wenn er das Mikro offen lässt. Aber wie soll er ihr bloss sagen, was ihn bewegt?

Die Situation ist universell vertraut und hat mit Gefühls-Behinderung viel zu tun. Aber nicht mit der Behinderung, die Piotr kennt: Als Piotr nämlich am morgen aus dem Haus tritt, ist sein Auto gestohlen. Als er die Polizei anruft, schreit er plötzlich: Wichser!

Das erfreut den Polizisten am anderen Ende nicht. Bulle! Auch Pjotrs Erklärung, er habe eine Krankheit – Tourette –, trägt zum Verständnis wenig bei. Volltrottel! «Ich habe einen Tick. Du Sau! Den kann ich nicht kontrollieren, Schwein!» Der Polizist hängt auf.

Es ist ein Fluch mit diesem Tourette-Syndrom! Pjotr trägt seinen Koffer zur Strassenbahn, verlässt sie aber wieder, ehe sie losfährt. Das Taxi lässt er einfach stehen. Unter Menschen, das ist klar, ist Pjotr nicht zu Hause. Nur wenn eine Glasscheibe zwischen ihm und der Welt ist, fühlt er sich wohl.

So geht Pjotr der Strassenbahn entlang Richtung Studio. Auf der anderen Strassenseite geht ein Fussgänger in die gleiche Richtung, unbeschwert, in fast gleichen Kleidern wie Pjotr. Auf seiner Seite kommt Pjotr ein Liebespaar entgegen. Pjotr schleppt seinen Koffer allein in die Gegenrichtung.

Der Fluch mit der Flucherei   

Es sind Bilder wie diese, die «Brzydkie Slowa» (Hässliche Worte) zu einem Film machen, der den Begriff Behinderung ausweitet: Piotr muss seine Liebe verstecken. Er will sich nicht unablässig erklären müssen. Als Tontechniker fällt es ihm leicht, seine Flüche, die die Krankheit ihm aufzwingt, hinter der Glaswand des Tonstudios zu verstecken. Aber als er mit Kasja zum Konzert geht, kommt es zum Eklat: Jetzt hilft es auch nicht mehr, dass er seine Telefongespräche mit vorbereiteten Sätzen ab Tonband führen kann, um sich zu erklären.

In kurzen zwanzig Minuten erzählt der polnische Regisseur Marcin Maziarzewksi seine Liebesgeschichte: Formal geschlossen, grandios gespielt und meisterhaft zu Ende gebracht. Was am Schluss zwischen den beiden Geliebten noch gesagt wird, das bleibt hinter Glas, unhörbar für uns. Wir sollen nur dem folgen, was uns unsere eigene Stimme sagt.

NASZA KLĄTWA

NASZA KLĄTWA

Nähe und Annäherung durch die Kamera

In allen Beiträgen des «look&roll»-Festivals ist die Kamera ein Mittel zur Nähe in einer Welt voller Behinderungen: In «Atlantic Avenue» scheint die Liebe unmöglich. Dennoch schildert der Film weit über die Behinderung hinaus einen grandiosen Augenblick von Intimität.

Zwischen Celeste im Rollstuhl und Jeremiah, einem Stricher, kommt es zu einem zufälligen Treffen. Die französische Regisseurin Laure de Clermont erzählt – unaufwendig und direkt –, wie Jeremiah Celeste über die Strasse schiebt. Celeste rollt eigentlich schon wieder davon, als sie plötzlich weiss, was sie will: Jeremiah. Sie wird auch dafür bezahlen. Jeremiah soll der erste Mann in ihrem sexuellen Leben sein.

Das spielt sich hinter einem unwirklichen Bahnhof ab. Jeremiah will erst nicht. Dann entschliesst er sich doch. Er fährt mit ihr zu seiner Absteige. Dann hebt Jeremiah die junge Frau aus dem Rollstuhl und trägt sie, über drei Stockwerke, die Treppe hoch.

In einer einzigen Einstellung, über einundzwanzig Treppenstufen hinweg, wird alles erzählt, was Liebe ist: sich tragen lassen können, sich festhalten dürfen, sich riechen können und gemeinsam mit jedem Schritt ein wenig näher zum Himmel kommen.

Die Reduktion und die Kunst

Reduktion schafft in der Kunst bestechende Formen. Behinderung zwingt geradezu dazu, eigene Blickwinkel zu suchen. Die Form zu reduzieren. Das macht diese kleinen Filme über und mit Behinderten auch immer wieder zu eigentlichen Kunstwerken.

In «Koala» vom Spanier Daniel Remón wird in einem Mobbingfall der gemobbte einfach ausgespart. Umso einprägsamer unser eigenes Bild. In «Notes of  Blindness» dürfen wir die verschiedenen Geräusche des Regens auch sehen. In «Sunny Boy» geht uns auch ohne Licht ein Licht auf. In «Hannah» beweist Sergio Cruz, dass es für Kreativität keine Grenzen gibt. Im «Interviewer» wird im Rollentausch ein ganz neuer Blick frei.

Neue Blickwinkel sind für Filmer ein Segen. Für die Kunst ist die Reduktion der Anfang der Kreativität. Das macht auch Ben Greens «The Mugger» klar.

Die Reduktion als Zwang zur Kreativität

Auf ein einfaches Bild reduziert, kurz: zum Brüllen komisch gespielt, stellt der knappe, schwarzhumorige britische Beitrag «Deaf Mugger» von Wiliam Mager zur Integration von Behinderten in der Arbeitswelt einen ganz eigenen Blickwinkel her.

Ein Taubstummer geht, in Begleitung seiner Gebärdendolmtscherin, seiner Arbeit nach. Sein Beruf ist – zugegeben – etwas ausgefallen: Strassenräuber. Aber Behinderung soll im Berufsalltag niemanden benachteiligen, auch nicht in seltenen Berufen. Da müssen sich halt alle Beteiligten ein wenig bemühen. Dann klappt das mit der Integration schon.

Tatsächlich kommt es mithilfe der Gebärdendolmtscherin zu einem – fast – reibungslosen Raub. Nur ist die Polizei vielleicht über die Integration noch nicht informiert. Da haut man doch besser ab.

Zeit, um über die eigenen Beschränkungen nachzudenken

Das Kurzfilmfestival bietet neben Gesprächen mit den Künstlern vor und nach den Filmen auch in Begegnungen und Diskussionsrunden die Möglichkeit, anders über «Behinderung» nachzudenken. Behindert werden wir geboren. Behindert sterben wir. Dazwischen bleiben wir blind für die andern, und taub für das Lebendige, fluchen unvermittelt, stehen nicht mit zwei Beinen auf dem Boden und können uns nur selten am Schönen ungehindert freuen.

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In 23 Beiträgen aus aller Welt kann man eine eigene Perspektive suchen. Kernstück des 5. Internationales Kurzfilmfestivals «look&roll» bildet der internationale Wettbewerb (vier Programmblöcken) mit Gesprächen unter Beteiligten. Das detaillierte Programm ist unter www.lookandroll.ch online abrufbar.


Die Wettbewerbsfilme laufen in vier Blöcken ab Donnerstag in den Kult-Kinos.

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