Vor 50 Jahren gaben fünf bleiche Briten im Londoner Marquee Club ihr erstes Konzert: die Rolling Stones. Ihr Firmenjubiläum begehen sie im Stillen. Weshalb wir die Zeit bis zu ihrer nächsten Tour – und die wird kommen, so Mick und Keith wollen – mit einigen unserer Lieblingssongs überbrücken, von «Brown Sugar» bis «Waiting On A Friend».
1. «We Love You»
Zum Auftakt ein Song aus der frühen Schaffensphase der Rolling Stones, als sich die «Anti-Beatles» noch mit ihren Konkurrenten um die Vorherrschaft auf dem Feld des psychedelischen Rocks stritten. «We Love You» wurde am 20. August 1967 veröffentlicht und ist nicht – wie von der Band scheinheilig behauptet – ein Dank an die Fans, sondern eine ironische Abrechnung mit der Boulevardpresse, die die Drogenexzesse und -prozesse der Band genüsslich breitgeschlagen hatte (der Song beginnt treffend mit Schritten und dem Zuschlagen einer Gefängniszellentür). Der Chor im Hintergrund klingt übrigens so traumhaft schön, weil die Meister des Pops höchstpersönlich mitsangen: die Pilzköpfe John Lennon und Paul McCartney. So gut wie in den «Londoner Jahren» waren die Rolling Stones später leider nie mehr. (Remo Leupin)
2. «Dead Flowers», 1971
Nun ja, da war, 1971, schon mal diese Plattenhülle von «Sticky Fingers» – den schmutzigen oder zumindest klebrigen Fingern: Eine Männerhüfte in engen Jeans, auf der Rückseite das Gesäss, vorn der Reissverschluss – die Wucht des Mannes. Die erste Stones-LP unter ihrem neuen Label. Die Band hatte sich von ihrer bisherigen Produzentenfirma getrennt und startete mit ihrer eigenen. Oben links die rausgestreckte, rote Zunge. Abgründige Texte, Rausch, Heroin, Tod, Verderben und Sehnsucht – in dieser und jeder anderen Reihenfolge. «Brown Sugar», «Wild Horses», «Bitch», «Sister Morphine» und eben – «Dead Flowers». Verwegene Fantasien, die dreckige, verhöhnende Jagger-Stimme, der dumpfe Bass, die rhythmischen Riffs und die melodiösen Soli. Der Leckt-mich-am-Arsch-Groove für abgelöschte Stunden und Guck-her-wer-ich-bin-Prozac, wenn die coole Scharfe an der Party auftaucht. «Dead Flowers» – eigentlich eine ziemliche Schnulze, aber die toten Blumen fuhren immer ein. (Urs Buess)
3. «Paint It Black»
Eigentlich war ich ja immer klar dem Beatles-Lager zuzurechnen (dort wiederum weder Lennon und erst Recht nicht McCartney, sondern der kleinen Anarchozelle namens Pro-Harrison-Front, was möglicherweise mitunter auf die Tatsache zurückzuführen war, dass mein Vater eine starke äussere Ähnlichkeit aufwies und aus schleierhaften Gründen immer nur Harrison-Stücke auf der Gitarre spielte, aber das ist eine andere Geschichte). Die Stones schienen mir immer etwas, nun ja: nölig. Und überdreht. Da hörte ich mich lieber durch die Doors, Santana, Hendrix oder noch obskurere Combos wie Sweet Smoke, Love oder Syd Barrett’s Pink Floyd.
Doch dann kam ich eines schwarzen Tages mit gebrochenem Herzen heim geschlichen, und mein Bruder legte «Aftermath» auf. Hallelujah, wie perfekt dieser Song auf meinen Gemütszustand passte! Welch wütende Verve, welch abgrundtiefe Destruktivität, welch konsequentes Selbstmitleid! Jedes Mal, wenn ich «Paint it Black» hörte, ging es mir ein klitzekleines bisschen besser. Und als mir einfiel, dass der gemeine Herzensbrecher eine tiefe Abneigung gegen die Stones hatte, drehte ich mit grimmigem Lachen den Volume-Knopf bis zum Anschlag. Bis heute funktioniert dieser Song bei mir einwandfrei als Stimmungsaufheller in jeder Lebenslage: Sobald Brian Jones (der beste der Stones!) auf der Sitar loslegt, huscht ein Lächeln über mein Gesicht, egal wie schwarzmalerisch mir eben noch zu Mute war. Eigentlich kein Wunder: Schwarz ist schliesslich meine Lieblingsfarbe. (Tara Hill)
4. «She’s a Rainbow»
Viermal habe ich die Rolling Stones im Konzert erlebt. Und kam doch zu spät. Viel zu spät, um ihre kreativsten Jahre in Echtzeit mitverfolgen zu können. Brian Jones, den vergessenen (weil verstorbenen) Gitarristen und Mellotron-Spieler kenne ich nur aus Dokfilmen und Büchern. Zu spät kam ich auch, um «She’s a Rainbow» je live zu hören. Vielleicht ist mir dieses Lied aus dem Jahr 1967 deshalb so ans Herz gewachsen. Weil sich da nie Überdruss einstellte (im Unterschied zu «Satisfaction», das ich nicht mehr hören mag), ja, weil ich nie die Möglichkeit hatte, es im Publikum mitzuerleben, ein Veilchen im Haar und ein Filzchen auf der Lippe. So stelle ich mir diesen Sommer zumindest vor, den die Chronisten mit dem Zusatz «of Love» für die Nachwelt definiert haben. «She’s a Rainbow» war wohl die Antwort der Stones auf die musikalische Bewusstseinserweiterung ihrer Konkurrenten Kollegen aus Liverpool, auf deren «Lucy In The Sky With Diamonds». Man mag in diesem Lied die für Keef und Co. typischen Gitarrenriffs vermissen. Doch gerade deshalb sticht «She’s a Rainbow» so markant aus dem Oeuvre heraus: Da ist diese überaus prächtige Spieldosenmelodie, da sind die niedlichen Oooh-la-la-Chöre, kombiniert mit wunderbaren Streichern (die übrigens ein Sessionmusiker namens John Paul Jones arrangiert hat, dies noch bevor er mit seiner Band die Stones auf dem «Stairway to Rock Heaven» überholte). Einfach herrlich, zum Schwelgen schön, selbst wenn man damals noch nicht einmal im Uterus planschte. Und zu alldem gefällt mir «She’s a Rainbow» auch, weil die Rolling Stones nie wieder so nahe an die Schweizer Beatles herangekommen sind. (Marc Krebs)
5. «Brown Sugar»
Yeah! Genau so muss Rock sein. Dreckig und hart. Nicht nur von den Riffs her, sondern auch textlich. Dieses Lied ist das Gegenteil von politisch korrekt: eindeutig, zweideutig, dreideutig. Geht’s nun um Sex, Drogen, Sklaverei? Egal, bei diesem Lied löst sich alles zusammen in einem gewaltigen Rausch auf. Eine Frechheit, dass das Musikmaganzin «Rolling Stone» diesen Wurf aus dem Album «Sticky Fingers» (1971) auf der Liste der 500 besten Songs aller Zeiten nur auf Platz 490 gesetzt hat. Dieses Lied gehört zu den aller-, aller-, allerbesten aller Zeiten. (Michael Rockenbach)
6. «Waiting On A Friend»
Die Stones haben ja vor allem abgekupfert. Diesen Song nicht. Aufgenommen wurde er bereits 1972 in Kingston, Jamaica, allerdings ohne Vocals. Den Text schrieb Jagger erst für die Veröffentlichung auf dem Album «Tattoo You» im Jahr 1981. MTV, das damals gerade aufkam, spielte das Video rauf und runter. Darin sehen wir Jagger, wie er mit drei schwarzen Jungs auf der Treppe eines Hauses im East Village in Manhattan (96-98 St. Mark’s Place – guckst du Street View) abhängt. Einer der Jungs hinter Jagger nestelt die ganze Zeit an einem Beutelchen rum, weshalb für mich immer klar war, dass es sich um einen Dealer handelt. Erhärten lässt sich das allerdings nicht. Einer der Schwarzen ist übrigens Peter Tosh. Jagger wartet nicht auf eine Lady, den Girls schaut er nur beim Vorbeispazieren zu. Jagger wartet auf einen Freund. Der kommt dann auch in Gestalt von Keith Richards. Zusammen latschen die beiden – begleitet von Sonny Rollins’ Saxophon-Solo – in eine Bar, wo sie Ronnie Wood treffen und schliesslich abjammen. Der Song zeigt die Möchegern-Machos, wie sie wirklich sind. Die Kernaussage: «Don’t need a whore, I don’t need no booze, don’t need a virgin priest/But I need someone I can cry to, I need someone to protect.» Will meinen: Vergiss die Weiber, vergiss den Schnaps, wenn du dich ausheulen willst, brauchst du einen Freund. Spricht Bände. (Dani Winter)
7. «You Can’t Always Get What You Want» (in der Version von Luther Allison)
1997 kam das Album «Paint it Blue» auf den Markt, ein Sampler mit Stones-Klassikern wie Wild Horses, Honky Tonk Women, It’s All Over Now usw. Alle gecovert von schwarzen Bluesmusikern. Und wie! Gänsehautfeeling ist garantiert. Zudem ist damit ein bisschen für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt, schliesslich haben die Stones jahrelang von der Musik der schwarzen Blueser gelebt – und das nicht schlecht. Das Stück «You Can’t Always Get What You Want», erschienen 1969 auf dem Stones-Album «Let It Bleed», wurde von Luther Allison interpretiert: groovig, schwarz, voller Kraft. Es wurde Allisons letzte Aufnahme, er starb im selben Jahr im Alter von 58 Jahren an Lungenkrebs. Übrigens: Luther Allisons Band, die er zusammen mit seinem Bruder Grant 1957 gegründet hatte, soll zuerst «The Rolling Stones» geheissen haben. (Monika Zech)
Weil die Stones sich selbst ganz gerne ganz unbescheiden als die grossartigste Rock’n’Roll-Band der Welt bezeichnen, überschreiten wir in unserer Listomanie für einmal die magische 7 und fügen noch einen achten Clip hinzu. Einen Bonustrack. Für diese Verlängerung sorgt passenderweise unser Fussballexperte:
8. It’s Only Rock’n’Roll (But I Like It)
29. Juli 1995. In Erinnerung geblieben ist: bombastische Bühne (war nicht anders zu erwarten), endlich mal die Stones gesehen und gehört (obwohl nie ein eingefleischter Aficionado gewesen), 65 Franken fürs Ticket bezahlt (welche Inflation auf dem Open-Air-Markt), gewundert, wie viele Menschen ins Joggeli passen (sonst nur mit FCB oder Nationalmannschaft oder mit Barça gegen Fortuna Düsseldorf erlebt). Und von der Setlist noch im Ohr: «It’s Only Rock’n’Roll (But I Like It)». (Christoph Kieslich)