Gott ist tot, Übermensch, Wille zur Macht: Das Denken Friedrich Nietzsches hat Begriffe abgeworfen, die über seine Philosophie hinaus in den Sprachgebrauch eingegangen sind. Was man zum Namensgeber des neu konzipierten, nun alternierend in Basel und Naumburg verliehenen Preises wissen muss – Nietzsche in sieben Schritten.
Gott ist tot, Übermensch, Wille zur Macht: Das Denken Friedrich Nietzsches hat Begriffe abgeworfen, die über seine Philosophie hinaus in den Sprachgebrauch eingegangen sind. Der Mann, dessen Name den höchstdotierten Preis für philosophisch-essayistische Werke in Deutschland kürt, war eine philosophische Ausnahmeerscheinung des späten 19. Jahrhunderts: von Haus aus Philologe, hat er sein Stammfach über die klassische Sprachwissenschaft des Altertums hinaus früh hinter sich gelassen und, ausgehend vom Denken der alten Griechen (insbesondere der Vorsokratiker), seine Kritik an der zeitgenössischen Moral, dem Christentum und der abendländischen Philosophie entwickelt.
Nietzsche gilt als einer der Vorväter der Existenzialphilosophie und der philosophischen Postmoderne und steht für ein radikales Denken ausserhalb der der philosophischen Systematik, gefasst in eine gewaltige, bildstarke Sprache. Was man zum Namensgeber des neu konzipierten, nun alternierend in Basel und Naumburg verliehenen Preises wissen muss – Nietzsche in sieben Schritten.
1. Der Basler Jungprofessor
24 Jahre alt war Friedrich Nietzsche, als ihn die Universität Basel 1869 auf den Lehrstuhl für Klassische Philologie berief – ein Zeugnis für das frühreife Genie des jungen Mannes aus Sachsen, aber auch eine Folge der klammen finanziellen Lage der Universität. Die traditionsreiche Einrichtung machte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Krise durch; 1833 verlor die Stadt an der Hülftenschanz ihre ländlichen Untertanengebiete, die folgenden finanziellen Einbussen spürte auch die Universität. Im selben Jahrzehnt wurden in Bern und Zürich Universitäten begründet, die als neue Konkurrenten Basel bedrängten.
Es fehlte an Studenten, und darum auch an Geld, um die Lehrstühle mit gewichtigen Namen zu besetzen. Man behalf sich mit vielversprechenden Jungtalenten, die kurzfristig kommen konnten, und ebenso schnell wieder weg waren, um die Karriere an einem Institut mit höherer Reputation fortzusetzen.
Einer dieser Nachwuchswissenschaftler war Friedrich Nietzsche, der für die Altphilologie geholt wurde. Bereits mit seiner Antrittsvorlesung zur Frage nach der Personalität Homers machte er deutlich, dass er eigene Vorstellungen von einer Philologie der Zukunft hatte: «umschlossen und eingehegt (…) von einer philosophischen Weltanschauung» soll die Philologie sein, und in der düsteren Gegenwart tröstend erzählen «von den schönen, lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes.» Jene idealisierte Epoche der klassischen Antike, deren Rahmung die Epen Homers und Hesiods bilden, wollte Nietzsche nicht ausschliesslich wissenschaftlich lehren, sondern pädagogisch nutzbar machen. Nietzsche meinte: von den heroischen Figuren der Antike, von der ästhetischen Gestaltungskraft dieser Dichtung habe sich was lernen lassen für das Leben.
Er selbst ging in Basel mit gutem Beispiel voran: Zu seinen professoralen Pflichten gehörte auch die Pflicht, am Gymnasium Altgriechisch zu unterrichten – und Nietzsche beschränkte sich dabei nicht auf die reine Lehre der Grammatik und dogmatische Rezitation der klassischen Texte, sondern auf selbständiges Übersetzen, Verstehen und Erschliessen der Epen, um so die Ehrung wie Verinnerlichung der Antike zu fördern. Zehn Jahre blieb Nietzsche in Basel, aus der von der Universitätsleitung ersehnten Kontinuität wurde jedoch nichts: 1879 gab er, erkrankt, seinen Lehrstuhl ab.
2. Der dionysische Mensch
Zwei Pole bestimmten für Nietzsche das antike Griechentum, für das er so brannte: das Apollonische und das Dionysische. Die beiden Gottheiten stehen für zwei Seiten der ästhetischen Schaffenskunst, wie er in der «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik», seiner ersten ausser-akademischen Schrift in Basel, die gleichsam seine wissenschaftliche philologische Karriere ruinieren sollte, ausführte.
Apollon, Gott der Künste wie der Reinheit und Mässigung, repräsentierte den bildenden Künstler, den Designer, der in seinem Schöpfungsprozess nach Harmonie und Struktur strebte. Das Prinzip nach Dionysos hingegen, Gottheit des Weins und der Ekstase, ist ein Schaffen im Rausch – nicht so sehr durch narkotische Mittel, sondern vielmehr durch die Aufgabe der Individualität: Nietzsche führte dieses Prinzip auf den griechischen Chorgesang zurück, der ursprünglich dem rituellen Kultgesang für Gottheiten wie Dionysos diente und von dort aus die Tragödie – die Aufführung, nicht die Textform – mit entwarf. Die Ekstase – im Wortsinn: der Schritt hinaus aus sich selbst – verankert Nietzsche im Kollektiv des singenden wie erzählenden Chors, in dem das Individuum sich aufgab zugunsten der überwältigenden Macht der Musik.
Dieses Gewicht sollte der Chor nicht beibehalten. Nietzsche schilderte, wie mit den Dichtern Euripides und Sophoklos das dionysisch-apollonische Gleichgewicht aus der Balance geworfen und die frühe griechische Tragödie verändert und, gemäss Nietzsche, vernichtet wurde: Die beiden Dichter stutzten die mythischen Ursprünge des Chors zurecht, brachten mit ihren komödiantischen Lehrstücken den Menschen auf die Bühne und domestizierten die Tragödie. Essentiell dabei ist die Verortung von Euripides und Sophokles als Zeitgenossen von Sokrates: der grosse attische Philosoph habe das Zeitalter des «theoretischen Menschens» eingeführt, der in der Überzeugung lebte, die Welt mittels Rationalität erfassen – und damit bestimmen – zu können.
Mit Sokrates und vor allem dessen Schüler Platon begann das technische Zeitalter, in der Rationalität den Rausch zurückdrängen sollte – mit Folgen bis in Nietzsches Gegenwart hinein: Im weiteren Verlauf der «Geburt der Tragödie» hob der junge Philologen-Philosoph, mit Dionysos und Apollon im Geleitschutz, zu einer Kulturkritik der Moderne an, die, erstickt von rationaler Kühle und blosser Imitation der einstigen gewaltigen Klassik, dringend neue dionysische Schübe benötige.
Er erkannte diese in der Musik Richard Wagners, mit dem Nietzsche bekannt war und den er verehrte, und verstieg sich zu jenen frühen Irrungen, die ihn auf die Erneuerungskraft des deutschen Geistes und deutschen Volkes hoffen liess. Nietzsche distanzierte sich später von dem Werk, bezeichnete es als «schwerfällig, bilderwütig und bilderwirrig», aber zentrale Elemente seines späteren Denkens waren hier grob schon herausgebildet.
3. Der Übermensch
Kaum ein Begriff seines Denkens ist derart eng mit Nietzsche verknüpft wie jener des Übermenschen. Nietzsche selbst hat diese Figur keineswegs eindeutig definiert: Seine erste gedankliche Erwähnung findet er 1878 in «Menschliches, Allzumenschliches» im Begriff des Freigeistes, ein Proto-Übermensch, der sich von den Traditionen und Lehrsätzen der Religion, der Metaphysik und den Moralsystemen überhaupt befreie.
Insbesondere mit der Philosophietradition geht Nietzsche hart ins Gericht, indem er den Philosophen vorwirft, sie hätten die vorherrschende, bedingte Moral zu philosophische Lehrgebäuden zu erhöhen versucht. Hinter jeder Wahrheit aber stehe einer, der sie reklamiere, und diese frühe Zeichnung des Übermenschen als einer, der Wahrheitsmodelle entlarvt und überwindet, findet in Nietzsches späteren Werken ihren Ausbau. Naturwissenschaft, Historismus und Technikgläubigkeit hätten die vom Christentum errichteten moralischen Lehrgebäude zum Einsturz gebracht, und nach diesem Totalniederriss bleibe nur die nihilistische Epoche übrig, in der die «letzten Menschen» antriebslos zufrieden in ihrem «Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel» treiben.
Gegen sie, folgert er in «Also sprach Zarathustra», tritt der Übermensch in die Geschichte: «Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn (…) Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.» Was oder wer er nun ist, darüber lässt sich Nietzsche vor allem in seinen späten Schriften und Notizen ambivalent aus: Rüdiger Safranski legt in seiner bereicherndem Nachvollzug der Entwicklung von Nietzsches Denken dar, wie der «Freigeist» nicht frei war von Schlüssen, die später als sozialdarwinistisch und eugenisch apostrophierbar waren. A
ber zentraler und ausführlicher war die Umschreibung des Übermenschen als eine rein aus sich heraus schöpferische Kraft, die keinen Rekurs auf höhere Instanzen mehr benötigt: «Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins», schildert Nietzsche die «Ewige Wiederkunft» im Zeitalter des Nihilismus. Ein insofern leerer Raum, da ihm keine über ihn hinaus weisende Verheissungen mehr innewohnen, durch die der Mensch der Selbstverwirklichung, der Selbstschöpfung verhindert ist. In diesem Raum ist der Mensch sein eigener Verwirklicher. Macht kommt von «Machen», meint Nietzsche, und der Übermensch ist als Autarker als einziger über sich selbst mächtig – wenn er denn will. «Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit.»
4. Der Tod Gottes
Nietzsche hat keine systematischen Abhandlungen zur Philosophie geschrieben und kein abgeschlossenes Lehrgebäude hinterlassen. Sein Mittel war der Aphorismus, die Aneinanderreihung von einzelnen, zentralen Gedanken. Gerade «Also sprach Zarathustra», eines seiner zentralen, sicher aber sprachgewaltigsten Werke strotzt vor One-Linern, die sich heute als Tattoos, auf T-Shirts oder als Meme in der Twitterwelt weiter verbreitern. «Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.» Oder: «Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!» Oder: «Alle Lust will Ewigkeit!» – wunderbare, starke Sätze, denen man uneingeschränkt zustimmen kann, ohne ihre jeweiligen Kontexte zu kennen. Sein bekanntester Satz ist jedoch nur drei Worte lang – und verdichtet ihn sich einige der zentralsten Stränge seines Denkens: «Gott ist tot.»
Der Satz taucht in der «Fröhlichen Wissenschaft» auf, im Aphorismus «Der tolle Mensch», der den Menschen nicht nur den Tod Gottes verkündet, sondern auch gleich seine Mörder nennt: wir alle. Beschrieben wird die Verkündung als Grossereignis als apokalyptisches Szenario – «Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten?» –, aber ihr schliesst sich sogleich die Erkenntnis an, dass mit dem Tod – der Abschaffung – Gottes Platz für Neues da ist: nicht für eine neue Gottheit, sondern für die Selbstermächtigung des Menschen: «Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?»
Was der «tolle Mensch» hier ausruft, ist kein atheistisches Bekenntnis, sondern eine Wachablösung – die Moralgebäude der Kirchen, sind gefallen, aber noch ist unsicher, was an ihre Stelle getreten ist: der Szientismus, der Fortschrittsglaube, die Indifferenz gegenüber dem Leben? Wenige Jahre danach hat er mit «Wir Furchtlosen», das er als Nachsatz zur «Fröhlichen Wissenschaft» verstand, seine Haltung geklärt: der Glaube an den christlichen Gott sei «unglaubwürdig» geworden, schreibt er unter der vielsagenden Überschrift «Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat», und infolgedessen müsse dieser Glaube zusammenbrechen – und mit ihm die darauf gebauten moralischen Leitsätze der europäischen Zivilisation. Das sollte noch dauern, aber die Euphorie war Nietzsche anzumerken: «In der Tat, wir Philosophen und freien Geister fühlen uns bei der Nachricht, dass der alte Gott tot ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei.»
5. Nietzsche und die Nazis
1934, anlässlich des 90. Geburtstag des bereits in seinem 56. Lebensjahr verstorbenen Friedrich Nietzsche, stand im «Völkischen Beobachter», dem NSDAP-Zentralorgan: Nietzsche sei der «Wegbereiter des Dritten Reiches» und «Begründer einer neuen Ethik», der durch die Umwertung aller Werte eine «erste Bresche in die Mauern der veralteten Weltanschauungen geschlagen hat».
Nietzsche, ein philosophischer Steigbügelhalter für die Diktatur der Nationalsozialisten? Offenbar, denn nach der Machtergreifung der Nazis verkündete Propagandaminister Goebbels, der Gang der NSDAP zur Macht trage «mit Recht den Namen der deutschen Revolution, denn es handelt sich in der Tat um eine Umwertung aller Werte, um den Sturz einer Gedankenwelt.» Umwertung aller Werte – es ist ein Begriff, den Nietzsche geprägt hat. Allerdings nicht im Sinne einer politischen Revolution, sondern als Diagnose zum Niedergang des Wahrheitsbegriffs («Nichts ist wahr, alles ist erlaubt»), der eng an die philosophisch-metaphysische Tradition und schliesslich an die christliche Moral gekoppelt war. Nietzsche betrachtete in seiner «Genealogie der Moral» die Geschichte der menschlichen Wertvorstellungen als eine konstante Abfolge von Umkehrungen – auf die von kriegerischer Körperlichkeit geprägte Moral der Antike folgte, als direkte Reaktion der Unterprivilegierten, die aus der Opferrolle geborene Sozialethik des Judentums und Christentums.
Die Neuzeit brachte schliesslich den Umsturz christlicher Moral durch den Nihilismus. Werte, folgerte Nietzsche, sind geschaffen und legitimieren Herrschaft, und wer sie umkehrt, kehrt die Herrschaftsverhältnisse um. Es war nicht die einzige Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten. Vor allem die Figur des Übermenschen wurde zu einer Bejahung Nietzsches des Führerkults umgedeutet, der Wille zur Macht als Legitimation von Herrschaft in Besitz genommen.
Uterschlagen – wenn auch während der NS-Zeit von Nietzsche-Kritikern erwähnt – wurde, dass Nietzsches Absage an Wahrsheitsbegriffe sich nur schwerlich mit den starren ideologischen Gebäuden der Nazis vereinen lassen. Ablehnend stellte er sich gegenüber dem Nationalismus, den er als «schlechte Ausdünstung von Leuten, die nichts anderes als ihre Herde-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein» bezeichnete, und zu den «antisemitischen Schreihälsen» seiner Zeit verlangte er, dass man sie des Landes verweise. Deutlich erkannte der die niederen Motive des Antisemitismus: «Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, dass die Juden Geist haben – und Geld. Die Antisemiten – ein Name der Schlechtweggekommenen.»
Schlecht weg kam bei ihm, es mag nicht überraschen, das Judentum als Religion, aus der schliesslich sein Erzgegner, das Christentum, hervorging: «Sünde ist … eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu ‹verjüdeln›.» Dass es ohne Juden keine Christen gäbe – das hat er ihnen nicht verziehen.
6. Nietzsche im Engadin
Zehn Jahre nach seinem Antritt gab Nietzsche seinen Lehrstuhl in Basel wieder auf – starke Migräne, wiederholte Magenschmerzen und eine zunehmende Kurzsichtigkeit, die auf eine Erblindung zusteuerte, verunmöglichten ihm die regelmässige Lehrtätigkeit. Erholung versprach er sich von der Höhe, der guten Luft im Oberengadin, wo es ihm «bei weitem am wohlsten auf Erden» sei: «Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein», schrieb er aus Sils Maria am Silvaplanasee, wo er seit 1881 regelmässig auftauchte. Als schien er seinen mythischen Zarathustra in die Realität zu holen, den Einsiedler, den es jahrelang von den Menschen weg in die Einsamkeit zog, um von dort die Ankunft des Übermenschen zu erblicken, wandte sich Nietzsche auf fast 2000 Metern von den Menschen ab, auch von den lokalen Bauern, und andere Touristen gab es noch nicht, und hörte in sich hinein – und dachte. «Ach, was liegt doch alles verborgen in mir und will Form und Worte werden!»
Sieben Sommer hat Nietzsche in einem kleinen Haus der Familie des Gemeindepräsidenten in Sils Maria verbracht und dort in seiner Kammer unter anderem Teile von «Also sprach Zarathustra» geschrieben, dessen Sprache beeinflusst war vom gewaltigen Naturspektakel der Region. Das Haus steht noch und ist heute ein Museum, das nicht nur Leben und Werk Nietzsches dokumentiert, sondern die geistige Arbeit erhalten will. Es kann und soll als Ort für einen mehrwöchigen Studienaufenthalt benutzt werden – und damit jene Funktion bewahren, die es bereits für Nietzsche hatte: eine «Brutstätte».
7. Die «geistige Umnachtung»
Am 3. Januar 1889 beobachtete Nietzsche während seines Aufenthalts in Turin beim Gang durch die Strassen einen Kutscher, der mit der Peitsche auf sein Pferd einschlug. Daraufhin eilte Nietzsche unter lautem Wehklagen auf das Pferd zu, um es auf offener Strasse zu umarmen. Eine absonderliche, rührende Episode, von der nicht geklärt ist, ob sie jemals so stattgefunden hat – ist sie erfunden, so hat sie dennoch jene veranschaulichend lehrende Kraft, die dem Mythos eigen ist. Denn damals, just in dieser Phase, als sich nach langen Jahren des Misserfolgs die erste Welle der Nietzsche-Rezeption Bahn verschaffte, begann Nietzsches geistiger Zusammenbruch, der ihn, den Denker in der einsamen Höhe, tatsächlich langsam komplett von seinen Mitmenschen entfernen sollte.
Der Turiner Episode voraus gingen die sogenannten «Wahnbriefe»: von Dezember 1888 bis Januar 1889 verschickte Nietzsche mehrere wirre Briefe an ausgesuchte Freunde, in denen sich Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse, Hinweise auf seine Biografie vermischten, und die Nietzsche mit «Der Antichrist», «Dionysos» oder «Der Gekreuzigte» unterschrieb. Der letzte dieser Briefe ging an den ihm bekannten Basler Historiker Jacob Burckhardt. Ein anderer Basler Freund, der Theologieprofessor Franz Overbeck, besuchte ihn daraufhin mit dem Leiter der Basler Psychiatrie in Turin. Der Anblick muss erschütternd gewesen sein: «… entsetzlich verfallen aussehend, erkannte er mich und stürzt sich auf mich zu, umarmt heftig, und bricht in einen Tränenstrom aus», um zuckend wieder in einen abgewandten Zustand zu verfallen, schrieb Overbeck.
Nietzsches Mutter holte ihn zurück nach Deutschland, pflegte ihn bis zu ihrem Tod – und erlebte, wie seine Gesundheit, ausgelöst vermutlich durch eine genetisch bedingte Schizophrenie sowie die Folgen einer Syphilis-Erkrankung aus seiner Studienzeit, sich stetig verschlechterte und schliesslich in eine fortschreitende Lähmung mündete.
Als drei Jahre vor Nietzsches Tod seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Pflege des nun praktisch gelähmten, durch Schlaganfälle gezeichneten und Demenzkranken übernahm, baute sie um ihn – oder um das, was von dem Philosophen noch übrig war – in ihrem Domizil in Weimar ein Zentrum des lokalen Geistesleben auf, dessen morbider Höhepunkt jeweils ein Blick auf den erstarrten, nahezu leblosen Körper des Philosophen war. Nietzsches Werke waren im ausgehenden 19. Jahrhundert, der kulturpessimistischen Atmosphäre des «Fin de Siècle», langsam grosse Verehrung zuteil geworden.
Nietzsches Schwester versuchte, diese mit einer gesteuerten Auslegung des Werkes, zu der auch willkürliche zusammengestellte Nachlassschriften, gefälschte Briefwechsel und eine zunehmend an die nationalistisch-völkische Stimmung angepasste politische Färbung der Philosophie Nietzsches gehörte, zu ihrem eigenen Glanz auszunutzen. Zu ihrem Widerspruch hatten Nietzsches Basler Freunde, allen voran Franz Overbeck, noch zu dessen Lebzeiten eine «Basler Tradition» der Archivierung und Auslegung von Nietzsches Werk begründet. An der Universitätsbibliothek Basel ist bis heute die zweitgrösste Sammlung an Nietzsche-Dokumenten, Briefen, Manuskripten erhalten. Das Basler Nietzsche-Archiv, und die daraus folgende Deutungstradition hat Nietzsche vor der durch seine Schwester begründete Verfälschung bewahrt – just an jenem Ort, an dem sein wildes Denken seinen Anfang nahm.