Solange wir noch gut zu Fuss sind, ist es ein Abenteuer: zu sehen, wie es sein wird, wenn wir nicht mehr so gut zu Fuss sein werden. «A simple Life» ist ein liebevolles Grosstadtbild über das Alter im Dichtestress mit einer sensationellen Hauptdarstellerin.
Die grössten Abenteuer wollen wir im Leben erleben. Aber ist das Alter ein Abenteuer? Film kann uns das Alter als Abenteuer erzählen. Film kann vor unseren Augen sogar die Zeit stehen lassen. Film kann aber auch ein ganzes Leben in einem Bild zusammenfassen. Die Regisseurin Ann Hui kann noch mehr: Sie kann mitten in Hongkong ein Bild der Welt finden, wie sie einst aussehen wird, wenn dereinst die Mehrheit der Menschheit über 50 sein wird und in Städten lebt. Im Dichtestress. Das wird abenteuerlich werden. Und der Anfang ist bereits gemacht: In Japan werden seit Jahren mehr Senioren-Windeln als Babywindeln verkauft.
Mitten im Leben der Grossstadt findet die Chinesin Ann Hui zärtliche Bilder für eine Frau, für einen Mutterersatz, eine Köchin, ein Dienstmädchen. Ah Tao. Sie ist seit sechzig Jahren im Dienst einer Familie. Sie sucht, heute wie immer schon, leckere Dinge auf dem Markt – für den Sohn. Sie kocht, putzt, bügelt, ordnet, wäscht für ihn. Sie ist wie eine Mutter aus einer anderen Zeit.
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Ah Tao ist aber mehr als das: Sie ist auch anderweitig unentbehrlich. Sie ist, wie eine gute Mutter, nicht durch die Dinge, die sie für ihren Sohn tut, präsent, sondern für alles, was sie bereits für ihn getan hat. Sie ist, wie das Sprachbild es deutlich macht, ‚ans Herz gewachsen‘. Dann erleidet Ah Tao das Schicksal aller Pflegepersonen. Sie bleibt am Ende allein zurück. Roger, der Sohn der Familie, ist der einzige, der noch in Hongkong geblieben ist.
Roger ist Filmproduzent und kann mit Geld umgehen. Er weiss, wie man unvorhersehbare Abenteuergeschichten erzählt. Doch sieht er sich inmitten von einem ganz anderen Drama. Plötzlich steht er einem voraussehbaren Abenteuer gegenüber, das sich ganz still in seiner Wohnung entwickelt: Ah Tao erleidet einen Schlaganfall. Sie ist auf seine Hilfe angewiesen.
Immer Hui, nie Pfui
Jetzt erzählt Ann Hui das Leben der Frau – im Rückblick, ohne zurückzublicken. Sie erzählt es aus der heutigen Sicht jener, die Ah Tao im Laufe des Gestern bedient hat. Eine solche Geschichte könnte leicht zu Kitsch werden, wäre da nicht diese unendlich klug gefasste Würde dieser Frau, die sich nichts schenken lässt. Die viel mehr die anderen achtet, als nur sich selbst.
«A simple Life» erzählt auch die Geschichte einer Sohnesliebe: Roger kümmert sich mit der klugen Distanz des Dienstherrn um ein grosses Herz, das ihm den Weg ins Leben geöffnet hat: Plötzlich sieht er seine Pflegemutter inmitten von anderen Alten. Neben einem herrischen Magister, einer hilflosen Einsamen, einem lebenlustigen Schnorrer, einer umsichtigen Pflegerin. Die Welt schrumpft zusammen, auf ein Altersheim, wie es die Zukunft mehr bieten wird. Städtebewohnerinnen in Bodenhaltung.
Ein spanndendes Abenteuer – ohne Action
Nur in wenigen Augenblicken lässt Ann Hui aufblitzen, zu welch aktionsreichen Bildern sie auch fähig wäre: Als Assistentin von Martial Arts kennt sie das Business, und zeigt auch dessen Ränder. Kurz vor Schluss sitzt Ah Tao in der Première des Films, den Roger in der Zeit produziert hat, für den er gearbeitet und gekämpft hat. Aber Ann Hui verzichtet darauf, mehr zu zeigen, als einen einzigen – wohlhabenden – Premièrengast. Lieber überlässt sie die Welt den weit offenen Augen von Ah Tao, die da unbeirrt ihren Weg geht. Von den Rändern aus gesehen ist die Welt auch im Zentrum voller Würde.
Wenn Sie noch gut zu Fuss sind, sollten Sie sich heute vor Augen führen lassen, wie die Zukunft einmal aussehen könnte – wenn Sie denn einst nicht mehr so gut zu Fuss sein werden. Mit wie viel Würde sie dann der Welt gegenüberstehen können, wird sich weisen: «A simple Life» ist auch eine Liebeserklärung an das Abenteuer Altwerden. Wenn man eine schöne Zukunft hinter sich hat.
Wie wunderbar unsere Kinos immer wieder Filme programmieren, die den Besuch lohnen! Und wenn den Programm-Kinos ein Film entgeht, ist immer noch das Stadtkino für Perlen zuständig: Der Film läuft ab 15.5. in der Reihe ‚Le BonFilm‘.