Der Abend gestern im Hotel klingt nach, ich erinnere mich beim Radeln an die schrägen Szenen im Motel, an die erfolglosen Italien-Teams an der Leichtathletik-EM und stoppe unversehens vor einem halsbrecherischen Tunnel.
Das Hotel gestern Abend, an der Autobahneinfahrt bei Borgorose, hat in der Rangliste der Rastplätze dieser Reise die besten Chancen auf den letzten Platz. Habe schon in schmutzigeren und lärmigeren Orten übernachtet, aber diese billige Art von Motels, die so gern was Besonderes wären und nur schäbigste Mache sind, hasse ich zutiefst.
Rollläden per Knopfdruck, aber sie gehen nur in die halbe Höhe. Das ginge noch. Leute, die bedienen, üppigst geschminkt, und einen weissen nicht von einem roten Wein unterscheiden können, die englische Parolen zücken, wenn einer am Dialekt als Ausländer zu erkennen ist – ich mag das nicht. Im Speisesaal ein Breitleinwand-TV. Eine von Berlusconis Blondinen moderiert, rechts das Wetter eingeblendet, als Oberzeile die Schlagworte des Tages – zum Beispiel, dass Italiens Hundert-Meter-Staffel der Damen an den Europa-Meisterschaften nur sechste geworden ist. Da kommt ein breitschultriger Macker im Stil von «Hier bin ich», setzt sich an einen Tisch, hat im Vorbeigehen einen Teller mit Früchten gefüllt, stopft sie in sich hinein, schaut den Nachrichten zu, versteht nichts und schnippt mit den Fingern.
Ärger über die «Negerinnen»
Niemand kommt, so steht er beleidigt auf, holt den Fernbediener, zappt ohne Rücksicht auf die Gäste herum, stellt den Ton sehr laut und niemand wagt zu widersprechen. Man ahnt: Unter diesem Stoff sind Muskeln, die gern mal zuschlagen würden, also lässt man den Zappenden zappen. Er trifft auf einen Sender, der die Leichtathletik überträgt – in der Wiederholung eben die Hundert-Meter-Staffel. Die Italienerinnen starten gut, doch da gibt’s bei einem Stabwechsel eine Panne und am Schluss gewinnen die Französinnen. «Alles Negerinnen», schreit der Macker in den Raum, «habt ihr es gesehen: Alles Negerinnen. Diese Negerinnen! Und dick sind sie. Italien nur dritte.» «Sechste!» korrigiert einer weit hinten. «Was, nur sechste?» ruft der Macker. «Diese Negerinnen!»
Life dann die Hundert-Meter-Staffel der Männer. Die sechs Mannschaften machen sich bereit – die üblichen Rituale. Genial der italienische Startmann. Er hat den Stab vor dem Start hinten unter die Träger des Leibchens geschoben, keck schauen sie über der Schulter hervor, während er seine Vorbereitungen trifft. Die Kamera von Rai Uno kann sich nicht satt sehen am originell-lässigen Auftritt des ersten Läufers, schwenkt zwischendurch mal auf Mann vier der Staffel. Dieser hängt am Telefonino, ganz cool. Der Macker und die Gäste im Saal sind begeistert. Die Männer werden die Scharte der Frauen auswetzen. So wie der Startläufer steckt keiner den Stab unter den Träger des Leibchens. Das muss die Gegner fertig machen.
Muskeln unter dem Stoff
Der Lauf beginnt, Italien voll dabei. Beim letzten Stabwechsel wiederum ein Problem. Der dritte Mann kann den Stab dem vierten nicht übergeben, sie verlieren wichtige Meter, geraten hoffnungslos in den Rückstand. Vor Wut schleudert der dritte Mann den Stab aufs Feld, das Rennen ist gelaufen. Empörung im Saal und der einzige, der nach einem Tag auf dem Velo von dummdreist vorüber fahrenden Ignoranten mit diesem doofen Blick aus den Fiats und Alfas etwas genug hat und diese Blamage schadenfreudig geniesst, darf nicht so herzhaft rauslachen, wie er eigentlich möchte. Schliesslich hat es Muskeln unter dem schwarzen Stoff des Mackers.
Geschlafen hab ich trotzdem gut, den Gepäckträger am Morgen mit einer Schnur geflickt und bin losgefahren Richtung Avezzano – ebenaus und bergab. Eine hübsche Morgenfahrt, angenehmes Wetter, sonnig, frisch.
Die Abruzzen sehen anders aus als in anderen Jahren während dieser Jahreszeit. Die Macchia-Landschaft ist alles andere als dürr, denn die Regenfälle der letzten Tage und Wochen haben das sonst wohl übliche Sommer-Aussehen verändert. Zwischen den strauchigen Gräsern, die sonst wohl die Kargheit der Landschaft vermitteln, wächst üppiges Grün.
Tunnel, unbeleuchtet
Abezzano erscheint mir recht trostlos. Kein Schmuck, nur niedrige Häuser, leicht verwahrlost, trete an ihnen vorbei und befinde mich unvermittelt auf der Superstrada, fahre an Einkaufszentren, Möbelgeschäften, Gartencentern, Hochzeitsläden vorbei und hinein in Industrielandschaften. Und plötzlich: Ein Tunnel vor mir und keine Möglichkeit, von dieser Superstrada wegzukommen. Unbeleuchtet, der Tunnel.
Ich wage mich hinein, bekomme Angst und gehe die anderthalb Kilometer im Dunkeln oder im Scheinwerferlicht der vorbei rasenden und manchmal entsetzt hupenden Autos auf einem schmalen Gehsteig am Rande der Fahrbahn.
Ich habe eine Art Gebirgssperre durchquert und dahinter tut sich ein Tal auf, das einer Landschaft im Inneren Spaniens gleicht. Leichte Hügel, dahinter hohe Berge, Macchia überall, Felsen, an den Hängen keine Bäume mehr, nur Büsche – und dann ein zweiter Tunnel, länger. Wer an Selbstmord denkt, würde da mit dem Velo vielleicht durchfahren.
Es hat zum Glück eine Ausfahrt – nach Capistrello. Dort sagt man mir, dass es keine andere Strasse nach Sora gebe ausser eben die Superstrada. Ich kann´s nicht glauben, auf der Karte ist eine eingezeichnet, verfluche die Ignoranz der Einheimischen, die nicht mal wissen, dass es auch eine alte Strasse um den Berg herum geht.
Es wird gesprengt
Aber die haben recht, die Strasse ist gesperrt. Und zwar mit einem Drahtgitter. Es hat zwar ein Loch darin, durch das ich das Velo brächte. Tu’s dann aber doch nicht. Fahre in ein Seitental, Pescocanale, wieder ein paar Höhenmeter in einsamer abruzzischer Landschaft hinauf, rassige Fahrt hinunter nach Canistro und auf der Talfahrt danke ich der Einsicht von vorher, nicht die abgesperrte Strasse genommen zu haben. Es wird gesprengt dort drüben, wo ich durchgekommen wäre.
Und dann das, wovon der Velofahrer träumt und was ihn glücklich den entgegen fahrenden Radlern zuwinken lässt – eine fast vierzig Kilometer lange Talfahrt mit neunhundert Metern Höhendifferenz nach Sora. Ein langweiliges Provinzkaff, wo der Polizist ein Eis lutscht, die jungen Frauen ihre tiefen Ausschnitte und engen Hosen spazieren führen und all die herumhängenden jungen Männer ihnen nachgaffen. Die Alten hängen in den Stühlen vor den Bars und schwatzen.
Im vierten Stock
Es ist zu früh, um Feierabend zu machen. Starte Richtung Cassino, das Valle di Comino hinauf, hohe Berge wieder, wo Wölfe und Bären hausen sollen. In Atina seh ich eines dieser Hotels, das es gewiss bald nicht mehr geben wird. Vierstöckig zwar und im vierten Stock ist die Aussicht wunderbar. Der Wirt ist erschrocken, als einer nach einem Zimmer fragte, hat die ganze Kundschaft in der Bar vergessen. Läutete der Frau, sie gab den Schlüssel, der Lift hat fünfundzwanzig Sekunden in den vierten Stock, und auf dem Balkon hoch über der Strasse wachsen Gras und Sträucher zwischen den gesprengten Tonplatten.
Ein Restaurant gibt es nicht im Dorf, doch die Wirtin lädt mich ein in den ersten Stock. Zum ersten Gang eine wunderbare Minestrone und zum zweiten Salat aus dem Garten, den würzigsten Schinken, den ich je gegessen habe und feinen Käse. Den Wein, eigenen Hauswein, serviert der Sohn in einer ehemaligen Whisky-Flasche: Golden River. Whisky aus Schottland – irgendwie will sich der Kreis schliessen. Und dann setzt er sich hin, der Sohn, und sagt: Ja, es gibt Bären hier, man sieht sie selten, aber es gibt. Und Wölfe auch. Diese sieht man manchmal.
(Atina, 12. August 2002)