Abschied und Ankunft, 22. Juni 2002

Sylvia fährt wieder heim, lässt mich aber nicht in Gamecy zurück, sondern nimmt mich im Auto bis Dijon mit. Hier wartet Jean-Martin, der mich ein paar Tage begleiten wird.

Mirebeau-sur-Bèze: Büttner mit dem roten Leibchen trägt einen etwas sonderbaren Hut. Rechts Buess. (Bild: Selbstauslöser: Urs Buess)

Sylvia fährt wieder heim, lässt mich aber nicht in Gamecy zurück, sondern nimmt mich im Auto bis Dijon mit. Hier wartet Jean-Martin, der mich ein paar Tage begleiten wird.

Gamecy versprüht bei Tag noch sehr viel stärker seinen Charme. Die blumig und ländlich gekleidete Bevölkerung aus den nahen und fernen Bauerndörfern kommt am Samstag ins Städtchen, kauft sich in der Apotheke, Papeterie und beim Optiker ein, was sich im Lauf der Woche als dringend zu tätigende Anschaffung erwiesen hat. Die Leute zahlen mit Checks der Crédit Agricole, was seine Weile dauert. Vor der Kirche haben Marktfahrer ihre Stände aufgebaut und bieten Kleider, Bauernprodukte, Töpferwaren und all die Sachen feil, die auch in Henrichemont zu sehen waren und in vielen dieser Kleinstädtchen jetzt auf den Markttischen liegen, hier und anderswo. Die Kirche mit ihren feinen Ornamenten leuchtet in der Frühsommersonne prächtig in die Landschaft. Wir schauen sie an.

Sylvias letzter Ferientag ist angebrochen. Sie fährt heim, nimmt mich mit nach Dijon. Habe diese Woche etwas getrödelt und muss bis Dijon im Auto mitreisen, denn da wartet am Mittag Jean-Martin. Er will mich ein paar Tage begleiten, «mitlatschen», wie er sagt. Es betrübt mich, durch diese schöne Burgunder Landschaft zu sausen, wo ich gern durch all die Felder und Weiten schweifen würde – aber Frankreich geht auch ostwärts von Dijon weiter. Wir treffen gegen Mittag in der Hauptstadt der Burgunder Fürste ein, schlendern durch die sehr prunkvolle Stadt und lassen es uns nicht nehmen, Senf einzukaufen. Schöne Strassen, eindrückliche Architektur, alter, etwas verschlafener Prunk. Ich versuche ein paar Wanderkarten zu kaufen, werde ab nicht wirklich fündig. Sylvia holt Büttner vom Zug ab – er trägt einen sehr merkwürdigen Hut. Ob das beim «Latschen» hilft?

Weg unter den Füssen

Wir verabschieden uns von Sylvia und nehmen den Weg nach Mirebeau-sur-Bèze unter die Füsse. Einen Weg unter die Füsse nehmen, findet Büttner schon mal merkwürdig, und er bittet mich, mir das so richtig bildlich vorzustellen. Woher nimmst du den Weg und wie bringst du ihn unter die Füsse? Wir kaufen Proviant, trinken ein Bier, wandern weiter, schwatzend, plaudernd, Büttner muss all die Reste der letzten Tage aufarbeiten, erzählt von der Redaktion des Tages-Anzeigers, die ich mittlerweile schon fast drei Monate nicht mehr gesehen habe. Er berichtet über die politischen News der letzten Tage und Wochen, ereifert sich – und mir ist alles so fern, allerdings auch bekannt. Das endlose, aber doch immer auch sich wiederholende Spiel mit neuen Anekdoten, Pointen, anderen Figuren und Figürchen.

Wir kommen gut voran im Wissen allerdings, dass im Umkreis von fünfundzwanzig  Kilometern keine Unterkunft zu finden sein wird. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne brennt auch um sieben Uhr abends recht heiss. Selbst in schattigen Wäldern verfolgen uns hartnäckig Mückenschwärme. Dann breiten sich wieder diese weiten reifenden Gersten- und Weizenfelder vor uns aus, der Hafer wechselt ins reifere Grau, die Körner werden in der Hitze hart. Wir sind uns einig, dass wir kein Hotel suchen, keine Ferme-Auberge, dass wir einen Platz für das Zelt finden würden.

Aussergewöhnliche Tischdecke

Am Rand eines Gerstenfeldes, zwischen zwei hohen Holzbeigen, die am Morgen die Sonne abhalten würden, richten wir uns ein. Wir sind froh, etwas Proviant dabei zu haben, eine Flasche Wein sogar; ich stelle das Zelt auf, Büttner holt Wasser im nahen Dorf, breitet die Landkarte als Tischdecke aus und lädt zum Nachtessen.

Zwei mittelalterliche Herren liegen ausgestreckt um ein einfaches Mahl, schauen der Sonne zu, wie sie im Getreidefeld versinkt, wie auf der anderen Seite der fast runde Mond hinter Bäumen aufsteigt. Vögel verstummen allmählich, hinter dem Wäldchen quaken Frösche, aus dem fernen Dorf schallt der Lärm eines Festes, wir reden immer langsamer über all das, was uns so bewegt – er von seinem Alltag, den er eben für ein paar Tage hinter sich gelassen hat, ich von meiner Reise.

(Mirebeau-sur-Bèze, 22. Juni 2002)

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