Abschied von den Highlands, 6. Mai 2002

Präzis auf die Bank-Holiday-Feiertage und das verlängerte Wochenende meldet sich der Frühling an. In Scharen vegnügen sich die Leute am Ufer des Loch Lomond. Karl erteilt eine Lektion zu früher Morgenstunde.

Die Berge werden flacher, die Landschaft lieblicher – die Highlands liegen hinter mir. (Bild: Urs Buess)

Präzis auf die Bank-Holiday-Feiertage und das verlängerte Wochenende meldet sich der Frühling an. In Scharen vegnügen sich die Leute am Ufer des Loch Lomond. Karl erteilt eine Lektion zu früher Morgenstunde.

«Hi», sagt der Mann, der neben dem Zelteingang sitzt. Er lehnt an seinem Rucksack und beginnt zu reden, kaum stecke ich den Kopf durch den Reissverschluss. Er heisst Karl. Mit «K». Karl textet mich zu, ohne Punkt und Komma. Der Herrgott, sagt Karl, hat es heuer gut gemeint. Nach kalten Tagen, regnerischen, zum Teil mit Lamm-Schnee, hat er den Frühling ausgerechnet auf das erste Mai-Wochenende ins Land geschickt und den Schotten – leider auch den Engländern, hält Karl fest – warme Tage geschenkt. Es ist Bank-Holiday, ein verlängertes Wochenende: Die Banken, sagt Karl, hätten am ersten Montag im Mai frei und darum halt alle anderen Geschäfte auch. Auf dem Festland feiere man den ersten Mai, dann hätten dort auch alle frei. Im Königreich schätze man eine gewisse Berechenbarkeit und darum sei nicht irgendein Wochentag, auf den der erste Mai zufällig grad falle, frei, sondern regelmässig der erste Montag im Mai.

Karl steht plötzlich auf, schultert den Rucksack und sagt, es sei nice, mich getroffen zu haben. Ich stecke immer noch zur Hälfte im Schlafsack, weiss nun aber immerhin, warum so viele Wanderer unterwegs sind. Feiertage. Ich frage mich nur, warum sie schon derart in aller Herrgottsfrühe unterwegs sind. Seit Stunden – dünkt mich – habe ich im Halbschlaf Schritte am Zelt vorbeigehen hören. Sie haben übergangslos die Hirsche abgelöst, die einen langen Teil der Nacht auf meiner Anhöhe gegrast haben. Mächtige Tiere – nachts aus einem Zeltspalt heraus betrachtet!

Ein Zelt, das stört

Wanderer schätzen es es nicht sehr, dass ein Zelt auf diesem schönen Aussichtspunkt steht – sie waren wenig begeistert und auch kaum freundlich, gingen schnell weiter. Einer sagt zu seinem Begleiter, es gäbe zu viele Feiertage, Ende Mai gebe es wieder einen und der nächste stehe im Juni an. Ich hab den Kaffee genossen, den Rest eines Cakes gegessen. Ja, es war schön hier.

Bin nicht sehr weit gekommen heute. Ich fühlte mich plötzlich in Feiertagsstimmung und nutzte jede Gelegenheit zum Trank und einmal sogar zu einem ausgiebigen Mittagessen. Und dachte darüber nach, was an den Schotten eigentlich so schottisch ist. Dass sie schrecklich fettig essen? Auf einen Lomond-Burger mit Weissbrot und Frites klatschen sie nicht nur Ketchup drauf, sondern stellen auch noch eine Dose Mayonnaise dazu.

Viele sind entweder fett oder zumindest übergewichtig. In der leichten Strandbekleidung, die sie am Ufer des Loch Lomond tragen, quellen überall Wülstchen und Wülste hervor – und wenn nicht, dann sind sie dürr und knochig. Auf Äusserlichkeiten legen die meisten wenig Wert, auf Eleganz und Stil schon gar nicht. Alles sehr praktisch und uneitel. Kein eleganter Schnitt, dafür riesige Blumenmuster auf der Bluse.

Unaufdringlich, unspektakulär, die Frauen eigenwillig und offenbar auch selbständig (noch nie habe ich so viele Frauen auf Wanderwegen allein mit Rucksack unterwegs gesehen) – aber wieso soll ein Schweizer nach zehn Tagen Schottland-Wanderung sowas beurteilen?

Verwegene Blicke, viel Lärm

Und die jungen Männer: diese verwegenen Blicke unter kurzgeschorenen Schädeln! Jederzeit, so scheint es, würden sie sich in ein Abenteuer stürzen – wenn´s nur eines gäbe. Die Zeiten der wilden Schlachten sind vorbei. Nun stehen sie auf Strandkies, unter Bäumen, in kleinen Gruppen, die Hemden von den schneeweissen Oberkörpern gerissen und kicken sich Bälle zu. In der Hand Bierdosen – nicht lässig, sondern gelangweilt. Auch dieser Feiertag wird vorübergehen.

Hier am Loch Lomond machen sie gern Krach. Hochtourige Boote flitzen über den  See, dröhnen in die Weite, für die kleinen Buben können Väter am Strand kleine Suzuki-Traktoren mieten. Sie lärmen auch. Die Traktoren schaffen mit ihren dicken Pneus jeden Stein, jede Wurzel.

Das Auf- und Abwärts auf dem West-Highland Way hält an, doch die Steigungen werden kürzer. Die Landschaft ändert sich: Keine Berge mehr, die den Horizont bestimmen, flachere Inselchen auf dem See, südwärts allmählich nur noch Hügel, langgestreckte, weite Hügel, Flachland fast. Ich steige von den wilden Highlands herab in die Ebene. Der Ginster blüht auch hier, aber er duftet kaum mehr. Er hat den Geruch verloren, diesen süsslich-samtenen Geruch der Highlands. Als ob die Gegend plötzlich die Würze verloren hätte, die Intensität.

Wie, wenn ich den umgekehrten Weg gegangen wäre? Von Süd nach Norden. Ich wäre losgezogen von Balmaha, nach jeder Wegbiegung hätte ich bedrohlich neue Berge auftauchen sehen. Nun ist es eben umgekehrt.

Ich erreiche Balmaha gegen Abend, sehe ein weisses Haus am Ufer, das Bed & Breakfast anbietet, zwei Männer, kurzgeschoren und leicht furchterregend wirkend, gehen vor mir aufs Haus zu. Jetzt bin ich wohl zu spät, denke ich, sehe, wie eine Frau die beiden einlässt und die Haustüre schliesst. Ich klopfe dennoch an. Es gibt noch ein freies Zimmer.

Wieder mal duschen, die Kleider auswaschen, den Akku vom Notebook aufladen. Noch bevor ich zum Duschen komme, klopft die Frau des Hauses an die Zimmertür, lädt zum Tee. Die beiden Männer, die mir zuvorgekommen waren, sitzen schon am Tisch, Barry und Colin. Sie wohnen in der Nähe von Glasgow, kennen jeden Winkel in Schottland. Nach Schweiss riechend und der Herr das Hauses nach Bier, beugen wir uns in der Stube über eine Schottland-Karte, und sie erklären mir den schönsten Weg von hier nach Carlisle, einer Stadt in England, wo ich Moni treffen werde.

(Balmaha, 6. Mai 2002)

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