Während das Kritikerheer von Première zu Première eilt ein paar Randnotizen. Berlin hat mehr zu bieten als über 400 Filme für eine halbe Million Zuschauer: Berlin ist selber ein Film, ungeschnitten, spontan vertont, voller überraschender Bilder und Schicksale.
Nicht allen, die zur Berlinale fahren, steht der Sinn nach Blitzlichtgewittern. Die Stadt allein bietet mehr Eindrücke, als manch ein Filmmarathon. Dennoch möchte man, in Berlin eingetroffen, wiederholen, was Gerhard Polt in «… Und Äktschn!» so vor sich hinmurmelt: «Mein Vater hat’s immer gsagt. Ohne Film gäb’s gar keine Realität!»
Während das Kritikerheer von Première zu Première eilt ein paar Randnotizen. Berlin hat mehr zu bieten als über 400 Filme für eine halbe Million Zuschauer: Berlin ist selber ein Film, ungeschnitten, spontan vertont, voller überraschender Bilder und Schicksale. An allen Ecken und Enden lauert mehr Wirklichkeit als Film darauf gefilmt zu werden. Gerhard Polt fasste ja auch nur lakonisch zusammen, was die Wissenschaftler dem Film gerne zutrauen wollen: Dass ein Film immer eine komplette Welt zusammensetzt, selbst wenn er es fragmentarisch tut.
Gewohnheit ist «Ausrufen!»
Die ganzen 360º-Sicht dieser vorfilmischen Welt in der Stadt hat in diesen Tagen tatsächlich herrlich viele Kleinigkeiten zu bieten. Erst einmal darf jeder Neuling im Berlin-Film geniessen, dass man ihn (auch sie) bei jeder Gelegenheit «junger Mann» nennt. Das tut gut – in so einem jungen Film zu sitzen – besonders an meinem Geburtstag. Kaum steige ich am Flughafen in die S-Bahn ist rund um mich herum: Berlin. Setzt sich eine Dame ins Abteil und hustet, hustet, und damit ihre Bakterien in den Wagen schleudert, bis die andere Dame im Abteil aufsteht und sich entfernt, deutlich und laut artikulierend, was man selber am Beginn eines Berlin-Aufenthaltes denkt: «Ich werde mir doch nicht heute einen Husten holen!». Für die Menschen hier ist es eine liebe Gewohnheit, das zu tun, was wir in der Schweiz «Ausrufen» nennen.
Drei Cappuccino und die Müllabfuhr kommt wöchentlich
Die Berliner lieben es aber auch, was wir «pläuschle» nennen: Der Cappuccino in der Kaffeebar hinter der Volksbühne wird mir besonders zuvorkommend zubereitet. Es trifft sich gut, dass ich zeitgleich mit der Müllabfuhr gekommen bin. Die Saubermänner kommen eigentlich hier nur alle zwei Wochen lang. Aber weil der Kaffeebarkeeper jeden Dienstag drei Cappuccinos für sie auf das Fensterbrett stellt, kommen die Jungs seit Neuestem wöchentlich, wird mir erklärt.
Ein Gast mit Rauschebart verlässt das Lokal, ohne zu bezahlen. Auch das wird mir erklärt. Indem der Kaffeebarkeeper mir zunickt, sagt er: «Der hat zuhause Bilder hängen, sag ich dir – Wahnsinn. Aber Geld hat er heute nie! Der bezahlt immer morgen.» Sind die Müllkipper endlich eingetroffen, danken die Männer bayrisch, mit türkischem Akzent. «Der andere da, Regisseur, arbeitet jetzt als Kindergärtner. Der zahlt auch nicht jeden Tag.» Kurz ist auf bayrisch noch vom Bundesliga-Spieltag und Kaffeearoma die Rede, von der lauen Witterung.
Dann klappern draussen erst die Mülltonnen, dann noch einmal die Capuccinotassen. Dann verstummt das Klinkern der Kaffeelöffel in den Kaffeetassen. Der Mülllaster kurvt weg. Der Abschied verhallt im nördlichen Dialekt: «Tschüssing».
Auch in meiner Pension kommt man daran nicht vorbei. Der Concierge nickt, als er den Berlinale-Katalog in meiner Hand sieht. «Siebzehn Stunden Film täglich? Wieso wollen Sie dann noch im Bett schlafen?»
Erst als die Betten frisch bezogen sind, offenbart er sich: Er habe das Filmen aufgegeben. Sie filmen? Ja! Damals. Erst als ich nachfrage, sagt der Concierge mir auch, warum: Er sei zwei Mal als Kameramann vor geladenen Gewehren gestanden. Einmal habe er in Afghanistan für das ZDF gefilmt. Einmal sei er für einen persönlichen Film über seine Grossmutter nach Israel gefahren. Er habe dort etwas über seine Familie herausfinden wollen.
Er liebte das Leben mehr als das Filmen
Grossmutter sei in Auschwitz gewesen, behauptete sie. Seine Mutter habe dies als eine pure Behauptung ihrer Mutter abgetan. Also habe er den beiden Behauptungen nachgehen wollen. Aber er habe von seiner Grossmutter in Israel nie erfahren, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Hingegen habe sie ihn als Nazi beschimpft. Weil er hinüber nach Palästina gefahren sei. Weil er mit Palästinensern habe versucht zu reden.
Diese Beschimpfung seiner Grossmutter sei dann der Anstoss zu einem neuen Film geworden, den er dann allerdings nie zu Ende gebracht habe: Als er bei einer Kundgebung in Israel plötzlich zwischen den geladenen Gewehren der Israeli und Palästinenser gestanden habe, habe er verstanden, dass er das Filmen nicht so sehr liebte, wie sein Leben. Mit der Gewissheit, dass er sich nicht erschiessen lassen wolle, habe er das Filmen aufgegeben. Für keinen Film der Welt würde er sich vor einen Gewehrlauf stellen. Nicht einmal für einen Film – über die palästinensische Friedensbewegung.
Berlin ist die Filmhaupstadt Europas? Nicht überall
Zur Nacht der Eröffnung trinkt man gerne noch einen Absacker. Das mediale Entzücken über Wes Andersons «Budapest Hotel» hat auch nicht auf die Besucher der Szene-«Baiz» übergegriffen (die Kneipe hinter der Volksbühne heisst nicht zufällig so, und wir müssen nicht lange raten, warum). In den Tagesnachrichten werden wohl auch hier rund um die Uhr die Stars und Starlets abgebildet. Aber die Antworten auf die Frage nach Christian Bales Frisur-Vorlieben will hier niemand wörtlich hören.
Hier läuft ein ganz anderer Film ab. Soll der Staatsekretär zurücktreten? Soll das Lokal mit dem Rauchverbot geschlossen werden? Den Nebel hierzu liefern die Raucher gleich selbst. Hier pafft noch ein jeder. Von Filmen ist kaum die Rede. Wenn, dann ist es jemand vom Fach. Die Kunststudentin, z.B., die begeistert über Kostüme spricht, aber ihre eigenen meint. Die Berlinale ist dann plötzlich ganz, ganz fern. Wie ein Mediengewitter am bewölkten Abendhimmel. Wie ein Autocorso, das mit Blaulichtbegleitung vorbeirauscht. Wie ein Teil jenes Filmes, der gleich ums Eck läuft als wäre es weit, weit weg von hier. Er bietet mehr Stoff, als all die Filme, die Festival-Filme, die eine andere Welt behaupten.
Keine Stadt in Europa hat eine derart hohe Präsenz der Filmschaffenden. Ausser Paris …
70’000 Filmschaffende sollen in Berlin leben, samt Schauspielerinnen, Techniker, Autoren, Produzenten – viele ohne Arbeit, nur wenige mit einem Auskommen. Dennoch strömen jeden Abend Tausende von Kinogängern in Hunderte von Filmen. Berlin ist das grösste Publikums-Festival der Welt. In dem Getümmel rund um den Potsdamer Platz möchte man fast nicht glauben, dass es noch ein anderes Berlin gibt, das gar nicht zu diesem Publikum zählt. Aber zum Reservoir an Stoffen, die noch aus dieser Stadt kommen können.