Jedes Dorf in der Bretagne weist auf die Kämpfe Ende des Zweiten Weltkriegs hin. Wie das Leben damals wohl war?
Einer hiess Brul, ist vor achtundfünfzig Jahren gestorben, nicht an einer Krankheit, sondern umgekommen in der Résistance. Er wird in Candé gewohnt haben. Kommt man von Rochementru, zum Teil auf Feldwegen, wo einem Füchse am heiterhellen Tag über den Weg laufen, nach Candé, ist die erste Strasse nach ihm benannt. Diese Jahreszeit war es, die Pflanzen werden sich am allerwenigsten um das Geschehen auf der Welt gekümmert haben, und sind emporgeschossen wie all die Jahrzehnte vorher und die achtundfünfzig Jahre seither bis heute. Dieser Brul, nach dem die Strasse benannt ist, wird sich auf seine Weise gegen die Besatzung gewehrt haben, ist von den Besatzern erwischt und getötet worden. Niemand hat mir etwas über ihn sagen können. Das Land hier ist aufgeregt, weil ihre Bleus in Korea in zwei Spielen noch kein Tor geschossen und erst einen Punkt ergattert haben. Dabei wurden sie vor vier Jahren Weltmeister. Und am Sonntag ist der erste Wahlgang. Seit der Invasion durch die Alliierten am 6. Juni sind achtundfünfzig Jahre vergangen, keine runde Zahl. Les Bleus sind wichtiger und selbstverständlich das Gebrabbel über die Wahl von morgen und in einer Woche.
Und es stehen Denkmäler hier, für Gefallene, für erschossene Geiseln. Überall, in jedem Dorf erinnert etwas an die Zeit vor bald sechzig Jahren. Wie das wohl war, hier? Die Bunker am Atlantik. Die Deutschen dürften sich vor allem an der Küste aufgehalten haben, auf den Strassen und Strässchen hier, die wohl nicht geteert waren. Hier war man nicht unterwegs, wenn man nicht musste. Fremde wurden misstrauisch beobachtet. Sie waren wohl sowieso in Uniform, die Fremden. Hätte sich kaum einer getraut, mit Rucksack so durchzuwandern, Zelt drin und immer die Möglichkeit, nach einem Hotelzimmer zu fragen. Ein Misstrauen muss geherrscht haben hier! Wer nicht bekannt war, dürfte auf verschlossene Türen gestossen sein. Wie wär’s wohl gewesen, in einem dieser zerfallenden oder nicht mehr erhaltenen, niederen Gehöfte angeklopft und um Nachtlager gebeten zu haben. Oder in einem der Dörfchen nach einem Hotelzimmer zu fragen?
Ahnte man damals, dass hier ein Stück Geschichte entschieden würde? Dass Amerikaner, vor allem: dass Engländer im Anmarsch sein würden. Als Befreier. Und dabei hatte man sie hier nicht so unglaublich gern, noch heute nicht.
Nicht einmal die Kirchendächer bieten Schutz
Dieses Stück Land, das so vorwitzig seine Nase in den Atlantik hinausstreckt, mit seinen immer wieder blühenden Margeriten- und Gräsermeeren, gespickt mit Glockenblumen im Juni, mit erstem Mohn, mit Veilchen, Klee aller Arten, mit seinen fein verstreuten Gehöften, verträumten Dörfern, Schlössern, Mühlen, die noch gedreht haben dürften vor achtundfünfzig Jahren – wie war das wohl? Sind die Leute schon damals zu Hause geblieben am Abend, haben sie ihre Fensterläden gegen die Strasse hin auch zugezogen, die Gärten so putzig gepflegt, das Gemüse gezogen, die Blumen geordnet? Freundlich und nett sind sie, die Menschen in der Bretagne. Aber gastfreundlich? Irgendwo ein Dach, wo man unterstehen könnte? Nicht mal die Kirchen bieten Schutz vor Regen. Keine Bänke, um sich auszuruhen oder nur selten, kein Platz zum Sitzen – und wenn mal ein Unterstand in der Art einer Bushaltestelle, die es in jeder beliebigen Stadt gibt, auftaucht, ist auch schon schreiend drauf geschrieben, wer sie gespendet hat. Kein Ort zum Ruhen, aber Hunde in jedem Garten, die einen bellend und kläffend begrüssen. Keine Angst, sie beissen nicht. Wer weiss das schon. Sie können nicht aus ihren umzäunten Gärten heraus.
Ein fruchtbares, habliches Land, die Bretagne. Doch man sieht nicht hinein. Wellige Hügel, einer hinter dem anderen. Malerische Namen, Chapelle-Glain, le Pin, wo einer am Freitagvormittag vor der Kirche Hunderte von Schuhen zum Verkauf ausgestellt hat, Rochementru, la Margatière, Candé mit seinen leeren, leeren Gassen mittags um zwei, wo die Leute erst redselig werden, wenn man sie im Laden anspricht, dann dafür sehr, l´Hermitage, les Charmes, la Nouette, wo mich ein Autofahrer zum Einsteigen bittet bis Belligné. In der Bar sitzen zwei Männer, eine Frau bedient, sie schweigen. Weiter nach Chapelle-St-Sauveur in der Hoffnung auf eine kleines Hotel wie gestern in Chapelle-Glain. Doch nur eine Bar steht da, der Kaffee aus der Thermosflasche, ein ergiebiger Landregen hat eingesetzt und zwei alte Männer schicken mich nach Ingrandes, sieben Kilometer weiter. Gleich nach der Brücke das Lion d´Or.
Ein schlichtes und schönes Hotel, wie ich es liebe, gerade im Umbau. Die beiden jungen Damen empfehlen mir mit höflichem Charme ihr Nachtessen im Anbau. Und ich habe es nicht bereut zu bleiben.
Plötzlich diese Weite
Ein letzter Spaziergang noch, kurz vor dem Eindunkeln, trotz Regen. Beim Näherkommen über die Hügel, nach dem Unterqueren der Autobahn, dem allmählichen Verstummen des Lärms hin- und herrasender Autos hatte ich plötzlich das Gefühl, es öffne sich vor mir etwas. So eine Weite wie das Meer. Ich war total erstaunt, wie nah am Hotel diese Weite plötzlich konkret wurde: Die Loire fliesst hier vorbei, dem Meer entgegen, unerwartet breit und mit kräftigem Zug. Ein überraschender, schöner Anblick.
(Ingrandes, 7. Juni 2002)