Adeus, Dr. Socrates

Socrates – brasilianischer Fussball-Magier, Kinderarzt, Kettenraucher, linker Rebell, Alkoholiker – ist am Sonntag gestorben. Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira war der erste Fussballspieler, der mich zum weinen gebracht hat. Gut, Kindheitserinnerungen sind eine verzwickte Sache. Oft wird etwas im Rückblick zur Gewissheit, das so gar nie existiert hat. Aber bei Dr. Socrates […]

Socrates – brasilianischer Fussball-Magier, Kinderarzt, Kettenraucher, linker Rebell, Alkoholiker – ist am Sonntag gestorben.

Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira war der erste Fussballspieler, der mich zum weinen gebracht hat. Gut, Kindheitserinnerungen sind eine verzwickte Sache. Oft wird etwas im Rückblick zur Gewissheit, das so gar nie existiert hat. Aber bei Dr. Socrates lege ich mich fest.

Am Sonntag, 4. Dezember 2011 ist der Zauberer, Rebell, Fussballer, Alkoholiker, Denker, Kinderarzt und Kettenraucher 57-jährig gestorben. Und ich habe ein Flashback. Weil ich auf der Suche nach einem Foto des Brasilianers auf dieses Bild stosse:

(Bild: Keystone)

Es zeigt Socrates, wie er am 17. Juni 1983 im alten Joggeli das 1:1 gegen die Schweiz erzielt. 60’000 Zuschauer sind ins alte Joggeli gepilgert, um die Brasilianer zu bewundern, obwohl es sich nur um ein Freundschaftsspiel handelt. Socrates tritt den Penalty wie immer ohne Anlauf – eines seiner Markenzeichen. Und es ist ein geschenkter Elfmeter. Das kann ich über 28 Jahre später mit absoluter Gewissheit sagen, weil ich plötzlich wieder genau daran erinnere, wie mir mein Vater erklärte, der Schiedsrichter habe bloss gepfiffen, weil er vorher den Schweizern auch einen Penalty gegeben hatte.

Ich weiss auch noch, dass ich mit meinen sieben Jahren eigentlich nur die erste Halbzeit hätte schauen dürfen. Und dass ich dann so lange gequängelt habe, dass ich tatsächlich zur Pause nicht ins Bett musste. Ein Pyrrhus-Sieg, weil ich so noch Brasiliens 2:1 miterleben musste.

Ein Spiel wie eine isländische Sage

Socrates spielt auch in meinem zweiten grossen TV-Fussball-Erlebnis die Hauptrolle. 1986, Weltmeisterschaft in Mexiko, Viertelfinal Brasilien–Frankreich. Fusballverrückt bin ich da schon längst. Aber diese Begegnung macht mir zum ersten Mal klar, dass Fussball viel mehr sein kann als bloss ein Spiel. Diese Partie breitet sich wie eine isländische Sage vor mir aus. Mit gefallenen Helden und enttäuschten Hoffnungen. Mit Euphorie, die innerhalb eines Sekundenbruchteils in Depression umschlägt. Mit grossen Gesten, als Platini den Brasilianer Zico tätschelnd über einen verschossenen Strafstross hinwegtröstet.

Und ich sehe, dass nicht nur Kinder nach Fussballspielen weinen. Die Kameras zeigen auf den Tribünen Erwachsene Menschen, aufgelöst in Tränen. Etwas bislang völlig Unvorstellbares für mich Zehnjährigen. 3:4 verliert Brasilien im Elfmeterschiessen. Socrates nimmt natürlich keinen Anlauf – und vergibt den ersten Penalty für Brasilien.

Dieses Spiel ist in meiner Erinnerung stetig gewachsen. Eine Aufzeichnung angeschaut habe ich nie mehr. Wohl aus Angst, mein Gedächtnis habe mich betrogen und die Magie könnte sich einfach verflüchtigen.

«Er ist verrückt»

Ich gebe zu: Von Socrates wusste ich damals bloss, dass er studierter Kinderarzt war. Damit hatte er mich schon für sich gewonnen. Dass er auch sonst ein Mann war, der weit mehr als Fussball im Kopf hatte, wurde mir erst viel später bewusst: 2006 an der WM in Deutschland. Als mich ein paar brasilianische Journalisten auf mein, wie ich noch heute finde, ziemlich cooles Shirt ansprechen, auf dem Socrates zu sehen ist. Aufdruck: «Socrates, Captain of Brazil. Smoked a pack a day.»

«Stimmt nicht», befinden die Reporter, Socrates habe mindestens zwei Päckchen am Tag geraucht. Sie erzählen davon, dass Socrates im Hinterland von Sao Paulo ein Spital gegründet habe. Dass ihm der Alkohol zu schaffen mache. Kurze Zusammenfassung: «Er ist verrückt.»

Ein Mann für die Fussball-Romantiker

Aber das ist es ja auf gewisse Weise, was seine Anziehungskraft ausserhalb Brasiliens ausmachte: Dass Socrates immer ein wenig anders tickte als andere Fussballer. In seiner Heimat wurde er nicht in erster Linie als linker Rebell verehrt. Die Brasilianer liebten ihn für seine unvergleichliche Eleganz auf dem Rasen. Aber auf viele Fussball-Romantiker in Europa übte der Mann dank seinen politischen Ansichten noch mehr Anziehungskraft aus.

Als Brasilien noch eine Militärdiktatur war, setzte er bei den Corinthians Sao Paulo ein System durch, bei dem die Spieler über Transfers, Trainingslager und Coaches abstimmen durften. Die «Democracia Corinthiana» dürfte einzigartig bleiben in der Welt des professionellen Sports.

Seit 2006 stand auf meiner Liste von «Geschichten, die du schreiben würdest, wenn du völlig frei wärst» eine Story ganz zuoberst: Socrates in seinem Land-Spital besuchen und ein Interview führen. Der Tod war schneller.

Ein langes Gespräch mit Socrates ist hier nachzulesen.

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