Forscher schlagen vor, wie der Trend zum Siedlungsbrei und zu Schlafquartieren umgekehrt werden könnte: Agglomerationen sollen zu urbanen Quartieren mit hoher Lebensqualität umgebaut werden.
Dies ist ein Fazit des Nationalen Forschungsprogramms «Neue urbane Qualität» (NFP 65), dessen Abschlussbericht und Empfehlungen am Donnerstag vorgelegt wurden.
«Die Stadtwerdung der Agglomeration wird zur Kernaufgabe des 21. Jahrhunderts werden», sagte Jürg Sulzer, Präsident der Leitungsgruppe des Forschungsprogramms NFP 65, vor Medien in Bern. Der ehemalige Stadtplaner von Bern und Professor an der Universität Dresden hat den ersten von zwei Syntheseberichten verfasst.
Die Schweiz habe sich in den letzten hundert Jahren zu einem «Stadtland» entwickelt, und das Siedlungsgebiet werde immer grösser. Es müsse aber auch qualitativ dazu gewinnen. Der Fokus der Forschungsarbeiten lag auf der urbanen Qualität der Agglomerationen, in denen immerhin rund 73 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben.
Mehr Stadt für alle
Die heutigen Menschen wünschten sich Geborgenheit, das Gegenteil von Anonymität. Von der hohen Lebensqualität in den historischen Innenstädten profitierten jedoch nur wenige, vor allem mittelständische Bürger, erklärte Sulzer. «Der Slogan könnte sein: Mehr Stadt für alle.»
Beziehungslose Häuser auf der «grünen Wiese» könnten das nicht bieten. Die Forscher empfehlen, dies vor allem beim anstehenden Umbau der Agglomerationssiedlungen aus den 1960er bis 1980er Jahren zu berücksichtigen.
Dazu brauche es Visionen – und zwar nicht ausgehend von den Gebäuden, sondern von Freiräumen wie Parks, Plätzen oder Erholungsgebieten. «Die urbane Qualität liegt im öffentlichen Raum», sagte Brigit Wehrli, Soziologin und Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 65. Dazu könnten zum Beispiel Konzepte des Urban Gardening und Farming eingesetzt werden.
Perspektivenwechsel um 180 Grad
Zu den guten Beispielen zählt Wehrli das Richti-Areal in Wallisellen (ZH), ein Quartier gemischter Nutzung, oder den Liebefeldpark in Köniz (BE) mit Wiesen, Bäumen, Spiel- und Sportmöglichkeiten und einem grossen Teich.
«Das ist ein Perspektivenwechsel um 180 Grad für die Raumplanung», kommentierte die Direktorin des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE), Maria Lezzi. Eine solche Entwicklung würde Landschaften und Kulturland schonen und Gemeinschaften bilden, damit sich Familien und Einzelpersonen in Zukunft wohlfühlten.
Um diese Ideen in die Tat umzusetzen, müssten die Gemeinden und Kantone indes verstärkt auf private Projekte eingehen und so die Richtung der Entwicklungen mitbestimmen, betonte Wehrli. «Gemeinden sollten im Voraus Konzepte erarbeiten, damit sie konkrete Projekte beurteilen können.»
Für Ariane Widmer, Verantwortliche des «Schéma Directeur l’Ouest Lausannois», einem der Projekte des NFP 65, kommt diese Forschungsarbeit in einem Schlüsselmoment. Das Raumplanungsgesetz befindet sich in Revision, die Zweitwohnungsinitiative muss umgesetzt werden. Das Forschungsprojekt zeige einen Weg auf und vermittle die Werkzeuge, um ihn weiter zu gehen.
Lokale Gegebenheiten
So entwickelten die Forscher im Rahmen des NFP 65 Modellierungs- und Visualisierungsplattformen, in die auch subjektive Nutzerperspektiven einfliessen können. Dadurch werden die konkreten räumlichen Auswirkungen von Ansprüchen unterschiedlicher Nutzer oder Eigentümer sichtbar und diskutierbar.
«Zumindest bei grösseren Entwicklungsvorhaben fehlt es anfänglich nicht an guten, auf Qualität ausgerichteten Projektzielen», erklärte Wehrli. Diese gingen allerdings im Verlauf des Prozesses oft vergessen. Es brauche transparente, verständliche und diskursiv ausgerichtete Planungs- und Entscheidungsprozesse, die alle Akteure – von den Behörden bis zu Investoren und Bauherren – einbezögen.
Der Bundesrat hat das NFP 65 im Jahr 2009 ins Leben gerufen, um Konzepte und Strategien für eine neue urbane Qualität zu entwickeln. Mit einem Finanzrahmen von 5 Millionen Franken wurde in fünf Projekten zwischen 2010 und Anfang 2014 zur neuen urbanen Qualität geforscht.