Der Aletschwald, der bis zu seinem Schutz 1933 stark genutzt wurde, entwickelt sich zurück zu einem Naturwald. Dies geben Wissenschaftler der Forschungsanstalt WSL in zwei Berichten bekannt. Doch die Hirsche bedrohen den Prozess.
Der Aletschwald auf rund 2000 Metern Höhe zählt zu den eindrücklichsten Wäldern der Schweiz. Mächtige Arven und Lärchen trotzen oberhalb Aletschgletschers dem Hochgebirgsklima. Dazwischen gedeihen winzige Sämlinge, Totholz modert vor sich hin. Vögel und Insekten finden Lebensraum in Höhlen und Rissen der zum Teil mehrere hundert Jahre alten Stämme.
Auf einer nahe gelegenen Jungmoräne, die der Aletschgletscher vor rund 150 Jahren freigegeben hat, hat sich ein Lärchen-Pionierwald etabliert. Der Wald ist von einer einmaligen Vielfalt geprägt, wie die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) am Dienstag in einer Mitteilung schrieb.
Das war jedoch nicht immer so. Noch Anfang des letzten Jahrhunderts nutzten die Menschen den Aletschwald intensiv. Sie sammelten Brennholz und Heidelbeeren, liessen Rinder und Ziegen darin weiden oder fällten Bäume für den Eigenbedarf oder den Verkauf. Die Einzigartigkeit des Waldes drohte verloren zu gehen.
Zum Schutz gepachtet
1933 pachtete die Naturschutzorganisation Pro Natura das Gebiet und stellte es zusammen mit dem Kanton Wallis unter Schutz. Seither beobachten Forschende der WSL und der ETH Zürich die Waldentwicklung. 1942, 1962, 1982 und 2012 vermassen sie in aufwändigen Inventuren sämtliche Bäume mit einem Durchmesser von vier Zentimetern auf Brusthöhe.
2012 erfassten sie zusätzlich an allen grösseren Bäumen Strukturen wie Löcher und Risse, in denen Vögel und Insekten Lebensraum finden. Die Wissenschaftler nahmen zudem Stichproben im 1999 neu dazu gekommenen Reservatteil im Westen und Süden.
Dank dieser kontinuierlichen Erforschung über sieben Jahrzehnte hinweg lässt sich die Entwicklung der beiden charakteristischen Waldtypen – des Lärchen-Arven-Altbestandes und des Lärchen-Pionierwaldes – umfassend beschreiben. Die WSL publiziert diese nun in zwei Berichten.
Viermal mehr Bäume
Obwohl immer noch Spuren der früheren Nutzung erkennbar sind, etwa abgesägte und kaum vermoderte Wurzelstöcke, hat sich dieser Wald innert 70 Jahren klar in Richtung eines Naturwaldes entwickelt. Er ist heute erheblich dichter und hat viermal so viele Bäume wie 1942.
Pro Hektar wachsen rund sieben sogenannte «Giganten», Bäume mit einem Stammdurchmesser von mindestens 80 Zentimetern, wie sie in bewirtschafteten Wäldern kaum noch zu finden sind. In diesen dicken Bäumen fanden die Forschenden zahlreiche Löcher, Höhlen und Risse – wichtige Lebensräume für Vögel und Insekten.
Die Zusammensetzung der Baumarten hat sich wenig verändert. Noch immer dominiert die Arve. Doch die Lärche hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren Anteil erhöht und auch Laubbäume wie Birke, Alpenerle, Vogelbeere und Weiden sind heute im Reservat vereinzelt zu finden.
Pro Hektar fanden die Forschenden ausserdem 24 Kubikmeter Totholz, was deutlich mehr als in einem durchschnittlichen Schweizer Wald ist – im Vergleich zu einem Urwald ist es allerdings immer noch sehr wenig.
Zu viele Hirsche
Gleich nebenan hat sich auf der 1942 noch weitgehend baumlosen Jungmoräne ein dichter Lärchen-Pionierwald angesiedelt. Doch seit 1982 nimmt die Anzahl kleiner Bäume nicht mehr zu oder schrumpft sogar. Insbesondere im alten Lärchen-Arven-Bestand wachsen deutlich weniger Jungbäume nach als für die langfristige Walderhaltung nötig wären.
Alles deutet darauf hin, dass der grosse Hirschbestand die natürliche Waldverjüngung hemmt und dadurch die langfristige Zukunft des Aletschwalds gefährdet. Nun nimmt sich eine Arbeitsgruppe der Waldeigentümer, der beiden Dienststellen für Wald und Landschaft sowie für Jagd, Fischerei und Wildtiere des Kantons Wallis sowie Pro Natura des Problems an. Ob es gelingt, könnte eine nächste Inventur im Jahr 2032 zeigen, schliesst die WSL.