Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft der türkischen Armee kollektive Bestrafungen der Bewohner der Kurdengebiete im Südosten des Landes und exzessive Gewaltanwendung vor.
«Die derzeit laufenden Einsätze unter Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperren setzen die Leben von zehntausenden Menschen aufs Spiel und fangen an, kollektiver Bestrafung zu gleichen», erklärte der Leiter des Amnesty-Programms für Europa und Zentralasien, John Dalhuisen, am Donnerstag.
Wegen unbegrenzter Ausgangssperren in manchen Kurdengebieten hätten die Bewohner über lange Zeiträume keinen Zugang mehr zu Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Strom und medizinischer Versorgung, führte Amnesty aus. Ausserdem bestehe «kaum ein Zweifel, dass die türkischen Behörden Leben aufs Spiel setzen, indem sie tödliche Gewalt exzessiv und rücksichtslos einsetzen». Dazu zähle insbesondere der Einsatz schwerer Waffen in Wohngebieten.
Die türkische Armee führt im Südosten des Landes seit Monaten eine Offensive gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Im Visier ist vor allem die PKK-Jugendorganisation YDG-H.
Ausgangssperren immer wieder verlängert
Um die Militäreinsätze zu erleichtern, verhängten die Behörden immer wieder Ausgangssperren. Derzeit gelten in Cizre in der Provinz Sirnak und im Bezirk Sur der Stadt Diyarbakir Ausgangssperren. Die Armee tötete nach eigenen Angaben bei Anti-Terror-Einsätzen hunderte Kämpfer, kurdische Organisationen beklagen allerdings seit langem, dass es auch viele zivile Opfer gebe.
«Sicherheitsmassnahmen, inklusive derjenigen, die mutmassliche YDG-H-Mitglieder betreffen, müssen den Verpflichtungen der Türkei unter internationalen Menschenrechtsregeln entsprechen», forderte Amnesty. Die Organisation verwies auf Angaben der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), wonach seit dem Start der Offensive im August 2015 bei Einsätzen während Ausgangssperren 162 Menschen getötet wurden, darunter 29 Frauen, 32 Kinder und 24 Menschen über 60 Jahre.
Unabhängige Beobachter behindert
Amnesty warf der islamisch-konservativen Regierung in Ankara vor, überdies die Arbeit unabhängiger Beobachter in den Kurdengebieten unter anderem durch die Androhung von Ermittlungsverfahren zu behindern. Staatschef Recep Tayyip Erdogan geht in letzter Zeit verstärkt juristisch gegen Kritiker vor, denen er «Komplizenschaft» mit aufständischen «Terroristen» vorwirft.
Dalhuisen bemängelte, da die Türkei ein wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und in der Flüchtlingskrise in Europa sei, erfahre sie «sehr wenig» Kritik aus der internationalen Gemeinschaft. «Strategische Erwägungen» dürften aber den Vorwurf grober Menschenrechtsverletzungen nicht ausblenden, mahnte der Amnesty-Vertreter. «Die internationale Gemeinschaft darf nicht wegschauen.»