Das St. Johann bei Nacht ist wie ein Spielplatz im Januar: Eigentlich ganz spassig, momentan aber grad etwas traurig. Protokoll eines nächtlichen Streifzugs.
22.12 Uhr
Erste Station St. Johann, Johanniterbrücke. Im «Chez Donati» sitzen für einmal nicht Jacques Herzog und Entourage beim Vitello Milanese, sondern nur noch eine kleine Tischgemeinschaft. Ausnahmslos graues Haar, dezenter Schmuck, zufriedene Blicke. Auf den Tischen ein paar Wassergläser, der Rest wird gerade abgedeckt. Hinter der Theke schäkern die Garçons. Sagt man das noch? Garçons? im «Chez Donati» bestimmt. Ältere Herren mit Jackett und der Würde und Diskretion hochrangiger Bediensteter. Hier fängt das St. Johann an und hier stellt es sich vor: Geldklammern und Dessertwagen.
22.14 Uhr
Der Besitzer von Chez Velo hievt sein Fahrrad durch die enge Tür seines Ladens. Er kommt gerade vom Velo-Polo, aus dem Rucksack ragen ein paar weisse Schläger. Er hebt kurz die Hand. Gute Nacht!
22.16 Uhr
«Jakob Leckerly Original syt 1753» steht auf dem Schaufenster. Dahinter: Frucht-Gelée-Mandarinli auf Porzellan mit Emblem, 300 Gramm für 9.50 Franken. Von links wehen Gesprächsfetzen vom «Johanniter Café» rüber, eine etwas zu laute Diskussion über Veganer. Of course. «Hey!» Ich drehe mich um. «Weisst du, wo diese neue Bierbar ist? Ist sie gut? Ist sie dein zweites Wohnzimmer?» Ich lache.
23.20 Uhr
Der Typ heisst Mattia und ist laut eigenen Aussagen entweder Arzt, Physiotherapeut, Tierwärter oder Architekt. Ist aber auch nicht so wichtig, denn geredet wird hauptsächlich mit seinem Freund und hauptsächlich über Journalismus. Mit den Medien sei es wie mit dem Essen, meint der und zieht an seiner Zigarette. «Wir suchen uns aus, was wir essen wollen, und gerade jetzt wollen wir gute Qualität, Nachhaltigkeit.» Auf der Strasse vor dem «Bierjohann» fegt ein Büschel vorbei. Stadtprärie. Mattia schreit aus der Tür hinaus. «Wollt ihr noch eins?» Das mittlerweile dritte Grosse. Zeit zu gehen.
23.40 Uhr
Im 11er-Tram sitzt ein junges Pärchen, er in grauer Jogginghose, sie in Leggins und Daunenjacke mit Fellbesatz. Sie starren auf einen Bildschirm. Das Mädchen legt ihren Kopf auf seine Schulter und drückt ihre Nase in den Stoff seiner Jacke. Sie schliesst die Augen.
Mitternacht
Smoky das Skelett starrt aus einem Hobbyraum im hinteren St. Johann. Aus seinem Mundwinkel hängt eine Zigarette – wohl der Grund für seine Verfassung. Dazu ein Zettel am Brustkorb: «My name is ‹Smoky›. Mister Smoky please!». Smoky legt Wert auf gute Umgangsformen.
0.02 Uhr
Fahl oranges Licht, heller Backstein. Davor eingepackte Pflanzen, die nicht hierher gehören, aber halt so gut aussehen, und was will man machen. Einzeln warmes Licht aus Fenstern mit selbst bedruckten Gardinen, dahinter Lichterketten, Fotos an der Küchenzeile, Moulinex Cuisine Companions, die so viel kosten wie: Dreissigtausend Gramm Gelée-Mandarinli.
0.20 Uhr
Hinter der Siedlung kommen die Gleise und die Blöcke. Immer noch Lichterketten, aber farbig, vorwiegend rot. Sie blinken aufdringlich an den Betonwänden, alle Fenster sind schwarz. Kein Mensch weit und breit. Auf der Strasse liegt Abfall rum, Schaummatten und Elektroschrott in Migros-Tragtaschen. Briefkästen, die der Wind aufgerissen hat, Werbeblätter in den Hauseingängen. Irgendwo schreit jemand rum, wahrscheinlich ists der Fernseher.
0.40 Uhr
«Eh, voi! Eh! Come stai?» Festus steht vor dem Lebara-Kiosk am Lothringerplatz und verstaut sein Handy in der Tasche, mit dem er vorher noch lautstark telefoniert hat. Ich schaue auf. «Italiano?» Ich lege den Kopf schief, lieber Englisch. Er nickt und lacht. «You walk with me?»
0.55 Uhr
Fünfzehn Minuten Festus für ein ganzes Leben Festus: Kindheit in Nigeria, mit 17 aufs Schlepperboot Richtung Italien. Nicht ertrunken, aber fast, aber gehört halt dazu. Mutter, Vater und Bruder immer noch zuhause, sie vermissen ihn. Wenn er genug Geld hat, ruft er seine Mamma an, er sagt mittlerweile Mamma zu ihr, die acht Jahre in Italien haben ihn geprägt. Sie weint oft am Telefon und er sagt dann jeweils, bald komme er zurück. Ist er schon einmal zurück? Er schüttelt den Kopf. Aber bald! Jetzt erst mal Basel. Seit drei Tagen ist er schon hier, er wohnt bei einem Freund.
1.00 Uhr
Festus sagt: Du bist die erste Person hier, die mit mir redet.
1.10 Uhr
Wir umarmen uns zum Abschied. Festus zieht seine Mütze ins Gesicht, läuft langsam weg, bleibt dann stehen und dreht sich nochmal um: Eh! Voi! Heirate deinen Freund! Und glaube an Gott! Dann bist du nie mehr allein.
1.25 Uhr
Im Voltabräu haben sie das Licht gedimmt und die Stühle auf die Tische geräumt. Zwei Menschen sitzen zwischen den Stuhlbergen und trinken Bier. Sie reden nicht, sitzen nur da, schauen sich und ab und zu den leeren Platz vor der Bar an.
1.40 Uhr
Ein Teppich aus Glasscherben liegt vor der Voltahalle. Dumpfe Musik dröhnt heraus. Semesterabschluss der FHNW Architektur, erklärt jemand. Geh rein, das Bier ist super billig!
1.45 Uhr
Das Bier ist super billig.
1.50 Uhr
In der Damentoilette überquillt der Abfall. Weisse Handtücher mit pinkfarbenen Lippenstiftspuren. Am Boden hat sich ein Handtuch-Bier-Brei gebildet.
1.55 Uhr
Vor dem Seiteneingang stehen die Raucher. Einige sagen interessante Sachen, andere nicht, die wenigsten wirklich. Immer geht es um Architektur oder um Alkohol oder um Liebe. Plötzlich steht eine Ambulanz auf dem Platz, niemand ist entsetzt. Jemand fängt eine Diskussion über teure Küchenmaschinen an. Hier hört das St. Johann auf und hier verabschiedet es sich: Geldklammern und Krankenwagen.