Was ist Armut? Und wie lässt sie sich bekämpfen? Judith Vera Bützberger hat sich Gedanken gemacht anlässlich der Sozialkonferenz in Basel.
Am 11. und 12. September findet im Union Basel eine Tagung zu Fragen von Armut statt. Ein Thema, das sich lohnt, genauer anzuschauen unter den Zeichen unserer Zeit. Was ist Armut?
Armut kann viele Facetten haben und auch je nachdem verschieden erlebt oder diagnostiziert werden innerhalb verschiedener Relationen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete Armut sicher etwas anderes, als was sie heute beinhaltet. In Asien oder Afrika hat Armut andere Relationen als in einem Land wie der Schweiz.
Ich wage gleich zu Beginn in den Raum zu stellen: Ist es wirklich die Armut, die uns gerade hierzuland so zu schaffen macht? Oder gilt es nicht eher an der Frage des Reichtums zu arbeiten und Reichtum zu vermindern? Ist diese Armut nicht oft einfach auch ein Schattendasein eines andern Status, der als erstrebsam vorgegaukelt wird. Je länger, je mehr!?
Armut kann nur als Armut erlebt werden, wenn es daneben etwas gibt, das anscheinend erstrebbarer scheint als solche «Armut». Dies bedeutet, mehr zu besitzen, mehr zu haben, mehr zu verdienen, mehr auszugeben, vielfältiger einzukaufen und zu essen, mehr im Restaurant zu essen, häufiger in die Ferien zu fahren, grössere Wohnungen, mehr Quadratmeter, mehr Kleider, Spielzeug, Autos, etc. Einfach mehr und nochmals mehr!
Macht es wirklich glücklicher, dreimal am Tag auswärts zu essen, als zu Hause in Ruhe und Sorgfalt zu kochen?
Ich wage die Frage aufzuwerfen: Ist es denn wirklich dieses «mehr», das unsere innere Zufriedenheit und unser Glück ausmacht und bewirkt? Macht es wirklich glücklicher, dreimal am Tag auswärts zu essen, als zu Hause in Ruhe und Sorgfalt zu kochen? Kleider bei Globus zu kaufen als bei OTTO’s? Ist das unser erstrebbares Glück? Ist dies nicht viel mehr eine Fata Morgana, der man ständig nachrennt? Kaum hat man die Fata Morgana erreicht, folgt die nächste, die man ergattern muss. Ein Zwang ständig dem Glück nachzurennen, das einem in Form von allen möglichen Aktionen vorgegaukelt wird, wie Luftballons, die sich auflösen, wenn man in sie hineinsticht.
Meiner Meinung nach liegt das Problem viel weniger in der Frage der sogenannten Armut hierzulande, als dass einen der ständige Vergleich und die ständigen Verlockungen, die einem im Alltag begegnen, unzufrieden sein lässt und das Bedürfnis ständig mehr als das »Lebensnotwendige» haben zu müssen. Man sollte zum Coiffeur, Kosmetikartikel kaufen, was auch immer…
Wie viel wirkliche Notwendigkeit steckt hinter all diesen «Zwängen»? Wie oft im Jahr müssen Haare, auch bei einer Frau, wirklich geschnitten werden, nicht einfach aus einem modischen Zwang heraus? Ich bin zur Ansicht gekommen, dass wir heute in einer Vorstellung von Standard leben, die einfach die Relationen völlig verloren hat im Verhältnis zu früheren Zeiten.
Eine weltberühmte Sängerin erzählte einmal in einem Interview, dass während dem zweiten Weltkrieg und nachher in Wien, auch wenn man an der renommierten Wiener Staatsoper engagiert war, es tagtäglich ausschliesslich Bohnen und Kartoffeln zu essen gab. Als man sie später einmal fragte, weshalb sie nicht höhere Gagen verlange, meinte sie lakonisch: «Mehr als ein Wiener Schnitzel pro Tag kann ich ja eh nicht essen». Wie richtig und weise!
Noch nie gab es so viele Amtsstellen wie heute, um sich helfen zu lassen. Und trotzdem wird das «Gejammer» lauter.
In einer Zeit, in der man in einem Supermarkt hunderte von verschiedenen Pizzas zur Auswahl hat, kann man nur Hochachtung haben für Menschen, die solche Zeiten erlebt, überlebt und sogar auch noch darin Höchstleistungen erbracht haben. Interessanterweise kamen gerade anfangs 20. Jahrhundert sehr viele Künstler – ob Schauspieler, Filmschauspieler, Musiker, Schriftsteller, Maler – aus allerärmsten Verhältnissen und haben sich auf sehr hartem Weg hinaufgearbeitet. Da hatte man nicht so Zeit zum Jammern, man legte Hand an, wo auch immer und arbeitete sich zäh hoch, bis man am Ziel war. Das galt auch für bürgerliche Berufe.
Noch nie gab es so viele Amtsstellen wie heute, um sich helfen zu lassen. Und trotzdem scheint mir das «Gejammer» und das «Schreien» nach mehr viel grösser als in andern Zeiten, als es all diese Hilfestellungen gar nicht gab. Die heutige Zeit spiegelt nicht zuletzt durch die Medienwelt einen Wohlstand vor, den der Durchschnitt der Gesellschaft meint, dass dieser erstrebenswert und real sei – ja jedem so zustehe. Dieser vorgegaukelte Wohlstand durch Werbung und TV-Sendungen scheint mir eher fiktiv, und verführt leider viele.
Ich vertrete seit Langem die Ansicht, dass weniger die Frage der Armut das Problem ist, als die Frage der Einstellung. Schlussendlich ist die Abdeckung der Lebensexisstenz einmal erste Priorität. Alles was darüber ist, ist schon eine Art Luxus. Wenn nun tagtäglich Werbungen einen berauschen, dass man das und jenes sich leisten soll. Es reichen nicht drei paar Schuhe, es gibt schon unter ganz jungen Menschen richtige Schuhsammler, die sich bis zu 200 Schuhe aneignen.
Es scheint mir in erster Linie notwendig, dass eine geistige Neuorientierung stattfindet: Reduktion anstatt Expansion.
Der regelmässige Fastfood-Konsum – ob Pizza, Kebab, Hamburger mit Petgetränken, wenn möglich noch Alkohol – gehört zum Alltag des jungen Menschen, schon bei Kindern. Während frühere Generationen noch mit Thermosflasche und hausgemachten Brötchen im Zug reisten, kennen jungen Menschen nur noch die teuren Fastfoodsandwiches von Subway und ähnlichem. Teure iPhones und Laptops gehören zum Reisegepäck. Schon Mädchen von 13 Jahren rennen mit teuren Handtaschen und Make-up herum wie alte Damen. Ferien müssen per Flugzeug irgendwo im Süden oder in Thailand verbracht werden. Wer reist schon noch auf die Rigi oder an den Vierwaldstättersee? Wer macht noch Wanderungen?
Es scheint mir in erster Linie notwendig, dass eine geistige Neuorientierung stattfindet: Reduktion anstatt Expansion. Nicht immer mehr Besitz, mehr Abdeckung von Bedürfnissen ist das Ziel. Nein, umgekehrt, die Reduktion und das Umdenken mit wenig und dem Notwenigsten zufrieden zu sein. Man braucht im Leben viel weniger, um zufrieden und glücklich zu sein, als man denkt. Weniger Wohnraum, weniger Bargeld, weniger Kleider, weniger Besitz allgemein. Je mehr man hat, desto mehr will man, da man nie befriedigt ist, und Besitz immer nach noch mehr Besitz schreit, weil man trotz allem ungesättigt bleibt.
Eine Welt in der Menschen alles, was sie nicht wirklich zum Leben brauchen, abgeben, damit dies gerecht verteilt ist, das ist sicher der schönste Traum innerhalb menschenrechtlicher Visionen. Die Bibel lehrt schon im Alten Testament, dass man jeden zehnten Teil von einem Einkommen «opfern» soll, d. h. spenden soll für Notleidende. Wenn allein dies schon alle, die mehr als für die Existenz notwendig verdienen, machen würden, könnte sicher schon sehr viel Leid gelindert werden, Menschen in Neuaufbauphasen unterstützt werden am Rande des Daseins. Wenn ausserdem der Einkommensgrenze nach oben eine klares Limit gesetzt würde, dann könnten sich Menschen nicht mehr eigennützig bereichern. Ein Eigennutz, der, dies werden sie spätestens am Ende ihres Lebens realisieren, sowieso nichts bringt, ausser Berauschung und Kompensation.
Es gibt Ansätze auch bei jungen Generationen, die es vorziehen, bescheiden zu leben beim Wohnen und im Alltag.
Die Frage der sogenannten Armut in unserer Zeit und unserer Gesellschaft wird nur durch ein gänzliches Umdenken, eine neue bescheidenere Lebenseinstellung innerhalb von Reduktion, von gesellschaftlichem Wohlstandsabbau, innerhalb gesunder Wurzeln zu verändern sein. Auch in der Arbeitswelt mit den der sehr hohen Arbeitspensen muss ein Umdenken stattfinden. Sie erfordert meist Kompensation. Kompensation wird sehr oft durch schnelles Geldausgeben getätigt. Schnelles Geldausgeben braucht wiederum mehr Verdienst. Ein Teufelskreis über den sich sicher lohnt nachzudenken. Er ist allzu vielen nicht bewusst und sehr viele sind Opfer davon.
Die Frage der sogenannten Armut in unserer Zeit und unserer gesamten Gesellschaft wird nur durch ein gänzliches Umdenken, eine neue bescheidenere Lebenseinstellung innerhalb von Reduktion, von gesellschaftlichem Wohlstandsabbau, innerhalb gesunder Wurzeln zu verändern sein. Es gibt Ansätze auch bei jungen Generationen, die es vorziehen, bescheiden zu leben beim Wohnen und im Alltag. Sie verzichten dafür auf einen hohen Verdienst zu Gunsten dieser viel höheren ethischen Lebensqualität und inneren Zufriedenheit.