Auch Venedig ist im Griff der Ndrangheta

Zeigt ein Videofilmchen aus Frauenfeld mehr über die Ndrangheta als ein Kino-Film? Venedig diskutiert über «Anime Nere». Ehe der Mafia-Film «Anime Nere» zu den 71. Filmfestspielen in Venedig anlief, galt es ein Video aus der Schweiz zu verkraften. In Frauenfeld hat die «Ndrangheta» eine ihrer Filialen eröffnet. Vor 37 Jahren. Und keiner hatte es bemerkt. […]

Eine Familien-Affäre: die Ndrangheta ist auch im Kino ein Thema.

Zeigt ein Videofilmchen aus Frauenfeld mehr über die Ndrangheta als ein Kino-Film? Venedig diskutiert über «Anime Nere».

Ehe der Mafia-Film «Anime Nere» zu den 71. Filmfestspielen in Venedig anlief, galt es ein Video aus der Schweiz zu verkraften. In Frauenfeld hat die «Ndrangheta» eine ihrer Filialen eröffnet. Vor 37 Jahren. Und keiner hatte es bemerkt. «Anima Nere» berichtet auch von der «Ndrangeta».

Die Mafia ist überall – in Frauenfeld und in Venedig

Wenn ich während des Festivals Venezianer auf die politische Situation anspreche, stosse ich auf Empörung und Scham: Der Bürgermeister von Venedig sitzt seit Monaten im Gefängnis. Er hat Gelder verschwinden lassen. Das Wort Mafia fällt oft. Aber das Wort Mafia nimmt man hier nur ungern in den Mund.

Franzesco Munzi schreckt vor dem Thema nicht zurück: In seinem Film «Anime Nere» begibt er sich auf die Spur der «Ndrangheta», des kalabresischen Familien-Unternehmens.

Der grösste Konzern Italiens 

Man durfte gespannt sein, was ein italienischer Filmkünstler zum  grössten Unternehmen Italiens zu sagen hat. Immerhin generiert die Mafia laut «Business Weekly» 2012 im Abfallbusiness, Baugewerbe, Immobilien, Drogen (etc.) einen Umsatz von 120 Milliarden Euro – allein in Italien.

Venedig ist ausserdem direkt vom Sumpf betroffen: Der öffentliche Nahverkehr ist seit Jahren völlig überteuert, die Mafia hat die neue Regulierung bestimmt. Die Gelder für den Schutzwall, der die Lagune vor Hochwasser schützen soll, sind in trüben Kanälen versickert. Das Baugewerbe ist eine der stärksten Stützen der Mafia.

Auch die «Mostra», das Filmfestival in Venedig, leidet: Der neue Festivalpalast ist seit Jahren eine Baugrube. Jedes Jahr besser vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt, sind in den letzten drei Jahren drei Millionen Euro im Sumpf einer Baugrube verschwunden. 300 Meter vom roten Teppich und den Blitzlichtgewittern entfernt.

Der zukünftige Festivalpalast. Ein Baugrube mit Korruptionssumpf

Der zukünftige Festivalpalast. Ein Baugrube mit Korruprionssumpf

«Anime Nere» – Schwarze Seelen

Im Ermittlungsvideo aus Frauenfeld im Kanton Thurgau sagt Ndrangheta-Boss Antonio N. in seiner Pizzeria zu seinen Mannen: «Ihr könnt in jedem Bereich arbeiten, Erpressung, Kokain, Heroin. Es gibt alles. 10 Kilo, 20 Kilo am Tag. Ich überlasse euch das selber. Danach will ich nichts mehr davon wissen.»

Mafia-Folklore

Der italienische Beitrag zum 71. Wettbewerb um den «Goldenen Löwen» beginnt denn auch nicht in Italien, sondern in Rotterdam, als Tragödie zweier Brüder. Munzi zeigt eine solide gemachte Western-Story. «Anime Nere» erinnert an Filme, die schon vor vierzig Jahren ähnlich gedreht worden sind: eine Familie im Netz der Mafia. Brüder im tödlichen Konflikt. Abel Ferrara, der ebenfalls noch einen Film in Venedig vorstellen wird, hat das in «Brothers» schon verfolgt. 

Wenn sich «Anime Nere» auf die autoritäre Struktur einer Familie fokussiert, ist das nicht neu. Das genau beobachtete kalabresische Lokalkolorit wirkt aber hübsch, für Italiener gar faszinierend authentisch. Letztlich aber bleibt der Film Folklore.

Ein Familien-Drama mit viel Empathie für Mafiosi

«Anima Nere» verfehlt das Ziel, die Faszination der Mafia zu widerlegen. Ja, er wirkt fast empathisch: Da hatte «Gomorrha», nach dem Buch von Saviano, zuletzt mehr Bewegung in die Diskussion um die Verstrickungen der Macht mit der Mafia gebracht. Auch deshalb wirkt dieses Brudergeschichte veraltet, ehe sie in die Kinos kommt: Die Mafia ist längst im dritten Jahrtausend angekommen und operiert mit den Milliarden-Subventionen der EU für den venezianischen Schutzwall. Der Film über die «Ndrangheta» ist noch im letzten Jahrtausend.

Der Cavaliere: «Belluscone – una storia siciliana»

Was «Anima Nere» nicht schaffte, trifft Franco Maresco mit seinem Dokumentarfilm auf den Punkt. Er zerpflückt das Mafia-Politik-Tandem in seinem scharfzüngigen Mockumentary: Er geht dorthin, wo die andere Hälfte der Italiener lebt: die schlagersingenden Berlusconi-Wähler.

Endlich kriegt man sie alle zu sehen, jene, die Berlusconi unterstützen, anbeten. «Belluscone – una storia siciliana» lässt den Filmkritiker Tatti Sanguinetti einem Sängerstreit unter Berlusconi-Wählern nachgehen. Er geht dabei einem Streit zweier «Neomelodiker» nach, die den Erlös aus einem Loblied auf Berlusconi für sich beanspruchen. «Vorrei conoscere Berlusconi». Der Manager der beiden Jahrmarkt-Schlägerröhren, Ciccio Mira, versucht zu vermitteln. Die beiden versuchen zu singen.

Was ihnen dabei über die Mafia, Berlusconi, den Staat und den Schlager über die Lippen kommt, oder im Hals stecken bleibt, entlarvt die Wähler der Rechten fast schon liebevoll. Bei der Premiere in Venedig war zu spüren, wie dringend die Menschen hier diese Lockerungsübungen brauchen. Gelächter. Applaus. Erleichterte Zwischenrufe. Venedig fängt an, über seine politische Erstarrung zu lachen. Berlusconi wird darin das, was er einst war: ein schlagersingendes TV-Phänomen. 

Italien im intellektuellen Stillstand

Und was berichten wir nach Frauenfeld? Es wird der 26-stündigen Serie «Gomorrha» vorbehalten sein, die Diskussion wieder in Gang zu bringen. Diese wird nächste Woche am Festival in Toronto präsentiert. Vielleicht schafft sie es, die Bilder um die Mafia als Geschäftsidee endgültig ins dritte Jahrtausend holen. Bis dann bleibt das Wort des Schlagerröhrenmanagers Chiccio an die Jungen auch in Frauenfeld gültig: «Kinder, lasst die Finger von der Mafia. Die ist auch nicht mehr, was sie früher mal war.»

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