Viele Gemeinden in der Schweiz haben zunehmend Mühe, genügend politisches Personal zu rekrutieren. Angesichts dieser Schwierigkeiten regt die Denkfabrik Avenir Suisse an, das Milizsystem mit einem «Bürgerdienst für alle» zu beleben.
Trotz aller Bedenken und Vorbehalte – für Patrik Schellenbauer gibt es gute und triftige Gründe, über eine allgemeine Bürgerpflicht nachzudenken, wie er in der am Dienstag in Zürich vorgestellten Publikation «Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne» schreibt.
Den Bürgerdienst, der für Frauen, Männer und niedergelassene Ausländer obligatorisch wäre, hatte der Think Thank bereits 2013 im Buch «Ideen für die Schweiz» ins Spiel gebracht. In der jüngsten Publikation werde dieser Vorschlag nun vertieft, schreibt Andreas Müller, der als Herausgeber verantwortlich zeichnet.
Demnach könnte die Dienstpflicht wahlweise in der Armee, in einem Schutzdienst oder in einer zivilen Tätigkeit absolviert werden. Der Dienst in der Armee wäre ausschliesslich den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten, die andern Bereiche stünden allen offen.
Milizprinzip unter Druck
Das Milizprinzip sei zwar eine tragende Säule der Schweizer Politik und geniesse in der Bevölkerung nach wie vor grosse Zustimmung. In der Praxis gerate dieses aber zunehmend unter Druck. Nur noch jede fünfte erwachsene Person engagiere sich in institutioneller Freiwilligenarbeit, unter die auch ein Grossteil der politischen Miliztätigkeit falle.
Noch genügend Rekrutierungspotenzial besteht laut Avenir Suisse auf Bundes- und Kantonsebene. Allerdings sei in den eidgenössischen Räten ein klarer Trend zur Professionalisierung zu beobachten. Rund 50 Prozent der Bundesparlamentarier seien Vollzeitpolitiker.
Im Ständerat gebe es gar keine reinen Milizparlamentarier mehr; im Nationalrat sei der Anteil auf mittlerweile 13 Prozent geschrumpft. Als Gründe dafür nennt Avenir Suisse die grössere Komplexität der zu bearbeitenden Dossiers und der höhere Zeitaufwand für die ständigen Kommissionen.
Auf der kantonalen Ebene üben die meisten Parlamentarier ihr politisches Amt nach wie vor neben ihrem Beruf aus. Auffallend sei jedoch die hohe Fluktuation in den kantonalen Parlamenten, heisst es in der Publikation. Über 50 Prozent der Parlamentarier würden nach einer Amtsperiode nicht wiedergewählt oder stellten ihr Amt zur Verfügung. Als Rücktrittsgrund werde häufig Zeitnot genannt.
Starke berufliche Belastung
Am deutlichsten zeigen sich die Grenzen des Milizsystems auf lokaler Ebene – also dort, wo der Löwenanteil der nebenberuflichen Ämter vergeben wird. Immer wieder hätten Gemeinden Mühe, genügend Leute für den Gemeinderat, für die Schulpflege oder andere Kommissionen zu finden, heisst es in der Publikation von Avenir Suisse.
Die nachlassende Bereitschaft, neben dem Beruf ein politisches Amt zu übernehmen sei einerseits auf die stark gestiegene Belastung von Kaderleuten und KMU-Unternehmern zurückzuführen. Zum andern seien internationale Firmen immer weniger bereit, ihre Mitarbeiter in Kaderpositionen für Milizämter freizustellen.
Punktuelle Reformen wie etwa höhere Entschädigungen oder die Entlastung durch die Verwaltung hätten kaum Anreize geschaffen und führten letztlich weg vom «ursprünglichen Ideal des Milizsystems». Aufgaben würden einfach scheibchenweise durch professionelle Staatsdiener übernommen.
Wenn das Milizsystem weiterhin ein Grundpfeiler des schweizerischen Staatsverständnisses sein und nicht zu einer Chimäre verkommen soll, müsse eine Grundsatzdebatte zum Milizsystem geführt werden, hält die Denkfabrik fest. Mit der «provokativen Idee» eines allgemeinen Bürgerdienstes wolle Avenir Suisse eine breite Debatte anstossen.