Bei einem Ausflug ans Meer erfahre ich, wie der Terroranschlag 9/11 in New York auch in Chur Folgen hatte und am Abend erzählt mir Jürg von der Mafia.
Erwache in diesem grossen Haus, in dem alle Türen offen stehen und in den Hof hinausgehen. Nur das Tor auf die Strasse ist geschlossen. Kein Mensch zu hören, nirgends Stimmen, keine Autos – nur ein Grillen-Konzert. Die Küche voller Schalen mit gerüstetem Knoblauch, getrockneten Tomaten, der Kühlschrank akkurat gefüllt mit eingemachtem Tomatenkonzentrat und Pesto. Milch hat da keinen Platz, und ich spaziere zur Piazza, trinke einen Kaffee und schaue den Männern zu, wie sie schon in grosse Diskussionen verwickelt sind, ebenfalls Kaffee trinken, auch da und dort mal schon ein Bier oder härteres. Man habe den ganzen Tag seinen Pegel, sagt mir später Jürg, doch Angetrunkenheit zeigen, das zieme sich nicht. Ein Betrunkener sei wie ein Aussätziger.
Kaufe auch etwas Milch, mache zuhause Kaffee, bis Jürg mit den beiden Kursteilnehmerinnen Alice und Felicitas kommt. Sie haben von halb zehn bis halb eins Unterricht, in einem Raum nebenan, ich höre sie reden, schreibe viele Briefe.
Wir spazieren zur Piazza, trinken einen Aperitiv, die beiden Frauen gehen zu ihrer Gastgeberin und wir bleiben sitzen, Männer vom Dorf setzen sich hin, schwatzen, betreiben Weltpolitik, alle schwatzen über die Amerikaner, die sich so verbissen auf die Araber stürzen. Der mit dem Schnauz – und Giuseppe meint Saddam Hussein – sei ganz besonders schlimm – böser als Bin Ladn und dieser sei ohnehin tot, da ist Giuseppe convintissimo. Convintissimo.
Wir schlendern ins Schulhaus, in die Küche, essen die Reste vom Abend und schwatzen über frühere Zeiten, über das, was Jürg seither erlebt hat, das was ich in den letzten Jahren erlebt habe, Beziehungssachen, seine langjährige Freundin ist vor einem Jahr an Krebs gestorben, nun hat er als Angehörige eigentlich nur noch seine Mutter, die ihm, dem Achtundfünfzigjährigen manchmal auch finanziell aushilft. Ist wohl auch nötig, Olivenöl, Tomatenprodukte und die Kurse reichen grad knapp zum Überleben.
Ohne Bitternis
Hat immer etwas Pech gehabt mit seinen Freunden. Viele haben ihn ausgenützt, in unangenehme Situationen gebracht, er ist in Verruf geraten, ein Subversiver zu sein, und ist eigentlich nicht verbittert. Sein kurzes Haar ist grau geworden. Seit er keinen Bart mehr trägt, wirkt sein Gesicht verschlossen, seine Antworten auf Deutsch und Italienisch tönen manchmal wirsch, aber die Augen schauen ohne Bitternis. Nun hat er hier auch noch diesen Hanfprozess am Hals, er scheint das locker zu nehmen und doch wirkt sein Körper, als stehe er – trotz eines jugendlichen Gangs – unter Hochspannung. Er gibt diese Italienisch- und Kulturkurse. Italienisch hat er einfach so auf der Strasse, mit Schülern und Freunden gelernt. Und er hat ein Riesenchaos überall.
Seine Wohnung ist schön, aber chaotisch – wenn eine Bombe einschlagen würde, sähe sie kaum anders aus.
Eigentlich wollten wir ein Mittagsschläfchen machen, haben aber zu lange geschwatzt, wir holen die beiden Frauen ab, fahren ans Meer, legen uns in den Sand, und ich wate seit Monaten zum ersten Mal wieder ins Wasser, in dieses warme Wasser, lasse mich von den Wellen hoch- und runter treiben – es ist Wohltat für Gelenk und Glieder.
Ein klarer Fall
Die eine der beiden Kursteilnehmerinnen erzählt über ihre Trennung – die Scheidung steht bald bevor. Es geschah am 11. September letzten Jahres. Am 11. September 2001. Nine/eleven. 9/11. An jenem Dienstag hatte sie frei, war nicht auf der Redaktion. Sie erledigte zuhause Dinge, die schon lange zu erledigen waren. Kurz nach Mittag versuchte sie ihren Mann, einen Redaktor, zu erreichen. Doch er nahm das Handy nicht ab.
Sie versuchte es später nochmals, wieder vergeblich. Um halb vier nachmittags erfuhr sie von den Anschlägen auf die Twin Towers in New York, und da war ihr – als Redaktionssekretärin – klar, dass ihr Mann nun keine Zeit für private Telefongespräche haben würde. Sie schaute den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend Fernsehen und sah diesen unglaublichen Ereignissen in New York zu.
Um halb zehn kam ihr Mann nach Hause. Sie sagte: «Unglaublich, was da in New York geschehen ist.» Und er fragte: «In New York? Was ist da geschehen? Hab ich gar nicht mitbekommen?»
So erzählte die Redaktionssekretärin, die nun bei Jürg Hagmann einen Italienischkurs machte und mit uns am Strand lag, die Ereignisse des 11. September, wie sie sie erlebt hatte. Sie hatte sich in einen Eifer hineingeredet, wie wenn es gestern geschehen wäre. «Und wie dieser Typ da, mit dem ich seit Jahren verheiratet war, so sagte:– da wusste ich, was es geschlagen hatte. Der war ganz sicher nicht auf einer Redaktion, wenn er nichts von der Sache mitbekommen hat. Der war auch nicht irgendwo, sonst hätte er es irgendwo erfahren. Der war in einem Bett mit einer anderen! – Ich bin am selben Abend ausgezogen.»
Und so erfuhr ich an diesem Nachmittag am Strand in der Nähe von Neapel, dass der Anschlag auf die Twin Towers nicht nur tausende von Toten in Amerika, sondern auch eine Ehe in Chur gekostet hat.
Camorra-Geschichten
Lange hänge ich am Abend mit Jürg in einer Pizzeria herum, er erzählt mir Camorra-Geschichten, die nur erzählt und nicht aufgeschrieben werden können. Schriebe man sie auf, müsste man von hier gehen.
Man wisse einfach nichts, höre nichts, erzähle nichts. Auch nichts über die Geschichte des Wirtes unserer Pizzeria, der mal ein Angestellter hier war, bis den Besitzern auf unerklärliche Weise Auto und Video-Anlage (noch steht auf dem Wirtshausschild „Video Pub“) wegkamen. Sie sollen alles wieder zurückerhalten haben, unter der Bedingung, das Restaurant dem jetzigen Besitzer zu überlassen. Nun wohnen die ursprünglichen Besitzer zurückgezogen in der Wohnung oberhalb der Beiz. Der Neue, früher nur angestellt, hat sie übernommen, seine beiden Söhne servieren. Der ältere – achtzehn – ist Geschäftsleiter und zwar aus steuertechnischen Gründen. Und hin und wieder sollen ein paar Männer auftauchen – sie würden dannjeweils ein paar hundert Euro einfordern.
(Casanova di Carinola, 14. August 2002)