Berg-Ungetüme, 27. Juli 2002

Die Halbinsel im Comersee ist alles andere als ein Wanderparadies. Dafür treffen wir eine Wallfahrts-Kirche für Velofahrer und begegnen einer etwas tristen Hochzeitsgesellschaft.

Blick von den Höhen der Halbinsel auf den Comersee. (Bild: Urs Buess)

Die Halbinsel im Comersee ist alles andere als ein Wanderparadies. Dafür treffen wir eine Wallfahrts-Kirche für Velofahrer und begegnen einer etwas tristen Hochzeitsgesellschaft.

Es war ein wirklich überwältigender Blick auf den oberen Teil des Comersees beim Aufstehen. Wir hatten ein gutes Plätzchen gefunden, klein zwar, eben, am Abend in der Sonne und am Morgen recht lange im Schatten. Anne ist verschiedene Male erwacht, hat sich über die Geräusche im Wald gewundert.

Zwei Männer hatten uns gestern Abend gesagt, der Weg, der bereits recht verwachsen an unseren Häuschen vorbeigehe, führe kaum weiter, sei wahrscheinlich total überwachsen. Ich versuche es zuerst ohne Rucksack – doch er führt weiter, allerdings steil hinan.

Wir marschieren lange aufwärts, immer wieder tut sich der Blick auf einen der drei Arme des Comersees auf, immer wieder setzen wir uns auch hin und plaudern. Und unvermittelt – nachdem wir an einem riesigen und eingezäunten Privatpark mit bedrohlich kläffenden Kötern vorbei sind – taucht die Trattoria Baita Belvedere auf. Eine Terrasse mit wunderbarer Aussicht. Da muss man innehalten, einen Kaffee trinken, eine Arranciata.

Allmählich wächst die Einsicht, dass die Berg-Ungetüme rings um den Comersee mächtiger sind, als ich mir vorgestellt habe. Mächtiger, unüberwindbarer und eindrücklicher als in der Erinnerung. Um nach Lecco zu kommen, müsste man zwei Zwölfhunderter Pässe überwinden, was zwar machbar, aber anstrengend wäre. In Civenna ist die Aussicht auf einen erträglich begehbaren Weg gut. Wollen wir das wirklich? Eigentlich möchte ich doch nach Sizilien gehen und nicht in die Berge.

Von Gimondi bis Merckx

Der Himmel macht zu, erst scheinen es dunstige Schleier, dann aber werden sie zu Wolken, zu einer grauen Wolkenwand, die sich schliesst. Die Passanten schauen etwas verwundert auf die beiden Packtiere, die vorbeigehen. Oben steht eine Wallfahrtskirche für Velofahrer: Madonna del Ghisallo. Da müssen wir Halt machen. Eine Kirche voller Velos berühmter Radfahrer von Felice Gimondi über Gianni Motta, Francesco Moser bis zu Eddy Merckx. Dazu eine grosse Menge Maillots Jaunes, die die Helden an wichtigen Rennen getragen haben. Und das Kirchlein voller bewundernder Radfahrer, die hier eine Pause einlegen, hier an ihrem Wallfahrtsort.

Viel zu jung

Eine Hochzeit dann in Brinna. Eine eher traurige Angelegenheit – die Braut dicklich und hochschwanger, der Bräutigam viel zu jung, die Gästeschar etwas dumpf, fett und gar nicht so richtig fröhlich. Der Himmel immer grauer. Die Grosstante hat sich die weisse Bluse bereits mit Schokolade verkleckert. Die Musik besteht aus einem Mann, der sein Computer-Piano auch mal alleine wilde Schlager spielen lässt. So laut, dass die Tanten und Onkels sich auf die Plastikstühle auf dem Teerplatz flüchten. Ein paar Frauen tanzen mit ihren Kindern, die jüngeren Männer räkeln sich an den halb abgeräumten Tischen, langen nach einer Flasche, wo´s noch Wein drin hat und warten irgendwie auf den Abend, der aber doch noch weit weg ist. Blumen werden hin und her geschoben. Die Wirtin hinter der Theke beobachtet alles mit scharfem Blick.

Es ist etwas ungemütlich geworden. Grauer Himmel, hohe Voralpen, dicht überzogen mit einem Urwald, undurchdringlich scheint er von der Strasse aus. Keine Ahnung, ob irgendwo ein Hüttchen ist, wo man übernachten könnte. Wie ein Pelz ziehen sich Gebüsche und Bäume über jeden Felsen, wie wucherndes Moos.

Wir gehen der Strasse entlang Richtung Erba, stossen in Lasnigo auf eine sonderbare Kirche, sitzen eine Weile auf dem Friedhof, rauchen eine Zigarette, studieren die Namen der Verstorbenen und sind uns plötzlich einig, hier zu bleiben, falls das Hotel ein Zimmer frei hat.

Im Albergo al Sole hat es Zimmer – oder doch nicht? Die Wirtin muss es zuerst bereit machen. Wir sitzen auf der weiten Terrasse und trinken ein Bier, der Himmel tut sich langsam auf, das Zimmer ist riesig, das in Aussicht gestellte Essen scheint so richtige, italienische Hausfrauenkost. Zuerst Pasta, dann Fleisch e contorni – dazu ein herber Landwein. Die Stimmung bessert wieder.

(Lasnigo, 27. Juli 2002)

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