Nun stehen definitiv die Alpen vor mir. Ich nehme den ersten Pass, die Lenzerheide, in Angriff und freue mich so an diesen Bergen, dass ich zwischendurch mit der Sesselbahn auf das Stätzerhorn fahre.
Am Frühstücksbuffet im Drei König balgten sich Deutsche und Franzosen um die letzten Butterzopfscheiben, die Yoghurtschüssel war leer, der Kaffee dünn. Und doch genoss ich diesen getäferten Raum, las Zeitung, zögerte den Aufbruch hinaus, denn die nächsten Kilometer waren mir so bekannt. Bin oft ins Tal der Plessur spaziert, als ich hier wohnte, jeder Schritt würde Erinnerungen wecken. Machte dann nach wenigen hundert Metern eine Pause, trank eine Cola auf dem Arcas, die Serviertochter, eine junge Thai-Frau, gab sich keine Mühe, ihre schlechte Laune zu kaschieren, stritt in lautem Churer-Düütsch mit ein paar jungen Burschen herum, die mit verkatertem Kopf auftauchten, nach dem Fest von gestern abend, wo – so erfuhr ich – auch sie dabei gewesen sein musste. Es war so grell und grob, eine Aufschneiderei nach der anderen – es hielt mich nicht lange. Schulterte den Rucksack, wanderte am Lehrerseminar vorbei, wo ich einst die Pädagogik eingetrichtert erhielt. Der Kirchturm der Kathedrale winkte zum Abschied.
Die Churer haben etwas Praktisches in ihrer Art. Dort hinten, wo das Tal der Plessur eng wird und schattig, wo die Hänge bewaldet ansteigen, haben sie neben den Friedhof ein Altersheim gebaut und dahinter grad auch noch das Krematorium. Und dort stieg der Weg an, schmal, steil, dampfend vom Regen der letzten Tage. Stand irgendwann auf der Strasse nach Passugg. Sie ist gesäumt von meist schrecklichen Bauten und praktischen Autogaragen und versteckt im Wald endet der Fussweg vor einem Ferienheim. Trost- und leblos stand es da, nicht geschlossen, aber ohne Menschen. Ein Wegweiser wies nach Churwalden, doch der Weg verlor sich, als ob ich durch Frankreich wanderte. Im Belvedere kam mir die Landschaft wieder bekannt vor, war früher oft hier. Ein Freund wohnte eine Weile da, und die gepflegte Unordentlichkeit von umherliegenden Spielzeugen deutete darauf hin, dass noch immer alternative Leute hier wohnten. Doch zu sehen war niemand, das Gras rings ums Haus und bis hinten zum Wald noch nicht gemäht.
Bündnerfleisch aus Argentinien
Immer hoch, immer hoch. Der Pfad wies plötzlich wieder hinunter zum Fluss, und ich beschloss, an zerfallenden Häusern vorbei auf die Passstrasse hochzusteigen und dem Teer entlang nach Churwalden zu ziehen. Die Leute fuhren heftig ihren Ferienzielen zu, laut und nervös. Bin die Strasse oft schon gefahren, habe ihre Steigung bislang nie einschätzen können. Die Distanz zwischen Malix und Churwalden auch nicht. An der mächtigen Kirche vorbei, hinein ins Dorf, wo die Einheimischen das Bündnerfleisch trocknen, industriell heutzutage mit Lendenstücken aus Argentinien. Fabrikläden bieten Würste feil, bin hineingegangen und hab mich gewundert, wie das Herz der Touristen höher schlägt und der Hunger nach Original-Food heisser wird, wenn in einer unerträglich schmucklosen Fundgrube die Ware einen Deut billiger angeboten wird, nur weil´s eben ein Fabrikladen ist. Das teure Bündnerfleisch, das in alle Welt geschickt wird, hängt unmittelbar hinter der Wand zum Trocknen. Tausendfach.
Eine wirkliche Entdeckung war dann aber der Milchautomat. Ein Bauer hat eine Einrichtung vors Haus gestellt, aus der für zwei Franken ein Liter frischer Kuhmilch, köstlich gekühlt, aus dem Hahn strömt. Ich probierte, hielt eine leere Flasche drunter und hab Milch getrunken wie schon lang nicht mehr. Sah dabei in die Berge hinauf, weisse Spitzen vor blauem Himmel, die Matten saftig grün, wie sie Haller einst beschrieben hat. Stellte mir den Weg nach Parpan vor, die Steigung, die flotte Autos mit mir teilen sollten und erblickte halt auch die Sesselbahn aufs Stätzerhorn. Ein Umweg wäre es gewiss, das schon – aber was für eine Luft! Welche Aussicht! Und dann abwärts wandern statt hinaufkeuchen.
Die Bahn fuhr – so schien mir – zum eigenen Vergnügen, keine Leute weit und breit. Die Frau in der Talstation war fest in ein Buch vertieft und erschrak, als ich nach einem Billet fragte. Wie man da sacht hinaufgetragen wird! Von Sekunde zu Sekunde erweitert sich der Blick, immer tiefer sah ich ins Rheintal hinunter, durch das ich gestern herangekommen war. Hatte für einen Moment überhaupt keine Lust mehr, weiterzuwandern, stellte mir vor, einfach hier in dieser Berglandschaft zu verweilen, stunden-, tage-, wochenlang.
Der Süden winkt
Ich genoss jeden Schritt den Berg hinunter, spürte, wie die Schuhe den Schotter quetschten, wenig Spaziergänger, Sartons tauchte auf, die ersten Ferienhäuser, zumeist verriegelt, da ihre Besitzer die Sommerferien wahrscheinlich am Meer verbringen. Ein stiller Heidsee, bereits geschlossene Geschäfte auf der Lenzerheide und wieder ein sanfter Anstieg Richtung Obervaz. Manchmal ein Blick ins Oberhalbstein, über dem – ganz im Süden – der Himmel so milchig fahl und bläulich schien. Ich ahnte den Süden, Italien, war hin- und hergerissen zwischen Vorfreude und dem Wunsch, länger hier zu bleiben.
Ich spürte Müdigkeit in den Beinen, war wacker vorangekommen und wollte noch bis Tiefencastel wandern. So manche Jahre habe ich in diesem Kanton gelebt, doch da, wo ich nun durchkommen sollte, war ich noch nie: Lain, Zorten … Dörfer, an deren Namen ich mich nicht einmal erinnerte. Hab mich erst lange hingesetzt, eine Zeichnung versucht, bevor ich den Abstieg nach Zorten, Alvaschein unter die Füsse nahm. Diese Dörfer kamen mir aus der Weite, vom Zug oder von der Strasse her, immer sehr unscheinbar vor. Und wahrscheinlich waren sie nie die allergastlichsten Orte, von Fremden gemieden und von Einheimischen bewahrt. Kaum Touristen hier, kaum Ferienhäuser. Und dank der guten Strassen heutzutage und der Vierradfahrzeuge sommers und winters bestens erschlossen – bewohnt von Menschen, die in der Nähe arbeiten, in Chur wahrscheinlich, in Thusis auch. Eine biedere Idylle an diesem Samstagabend, die Familien rüsteten den Grill in jedem Garten, legten die Würste bereit. Ein paar Freunde würden vielleicht kommen, Verwandte.
Ein Gefühl von Einsamkeit
Es wurde mir plötzlich etwas einsam zumute, ging stracks den steilen Weg nach Alvaschein, von Büschen überwachsen, an einsamen Gehöften vorbei, klaren Brunnen, und unter mir tuckerte die Rhätischer Bahn durch die Schynschlucht. Ich stellte mir vor, wie es wäre, nun auch an einem solchen Grill zu sitzen, mit jemandem zu schwatzen, mit andern ein Glas Wein zu trinken statt in Tiefencastel sich irgendwo allein in die Büsche oder in ein Bett zu schlagen.
Und vor allem dachte ich, dass ich nun auch mit Moni zusammensein könnte. Und wie die RhB in den ersten Tunnels verschwand, kam mir die Idee, ins nächste Züglein zu steigen. Falls ich eines erreichen würde, wäre ich in zweieinhalb Stunden in Zürich. Aber ob Moni daheim ist.
Sie war. Sie sagt, sie würde sich freuen. Und es fuhr ein nächster Zug. Zehn Minuten, nachdem ich in Tiefencastel ankam.
(Tiefencastel, 21. Juli 2002)