Elf Asylsuchende demonstrieren vor der Berliner Gedächtniskirche und werden abgeführt. Das im Krieg zerstörte Mahnmal erlangt damit aufs Neue Bedeutung. Ein Lehrstück von unserem Community-Mitglied.
Eigentlich hatte ich die Absicht, vom freundlichen und verstehenden Umgang zu erzählen, den man in Berlin mit Asylsuchenden pflegt, auch wenn sie die deutschen Asylgesetze nicht wörtlich einzuhalten bereit sind. Die Erzählung hätte die Beschreibung einer Art Weiterführung der Oranienplatzflüchtlings-Dauerdemonstration zum Inhalt haben können.
Der letzte Ort dieser zweiten Demonstration von asylsuchenden Flüchtlingen gegen deutsche Asylgesetze in Berlin besass zudem bedeutend mehr Symbolkraft als der nicht gerade weltbewegende, bei vielen Stadtbewohnern nur vom Hörensagen bekannte Oranienplatz in Kreuzberg: Die Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz!
Elf Asylsuchende liessen sich vor einigen Tagen an der Gedächtniskirche nieder. Sie haben verbotenerweise ihr «Asylrayon» Sachsen-Anhalt verlassen und sind nach Berlin gekommen, um gegen schleppende Asylverfahren und gegen das Verbot, Arbeit anzunehmen, zu demonstrieren.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin setzten sie sich erst während einiger Zeit irgendwo auf dem weitläufigen und unübersichtlichen Alexanderplatz hin – aber dort verlor sich die Wirkung ihrer Demonstration im allgegenwärtigen Durcheinander von Zehntauenden, die sich in der Gegend alltäglich bewegen. Auch ein Hungerstreik mit medizinischen Notinterventionen in Krankenhäusern, welche das Überleben der Demonstranten sichern mussten, verhalfen deren Anliegen nicht zu einer breiteren und wirksameren Öffentlichkeit.
Die elf Männer beantragten denn auch – sehr PR-wirksam – beim Pfarrer der Gedächtniskirche «Kirchenasyl».
Ich nehme an, dass die elf Asylbewerber, aus denen in Berlin elf Demonstranten gegen das Rigorosum namens «Asylrecht» geworden waren, von erfahrenen Asylbewerberunterstützerinnen und -unterstützern beraten wurden, sich auf den Breitscheidplatz zu begeben. Die elf Männer beantragten denn auch – sehr PR-wirksam – beim Pfarrer der Gedächtniskirche «Kirchenasyl».
Damit war ein Begriff in der nachösterlichen Nachrichtenwelt gelandet, der nicht nur in Deutschland jene «Gesetzeshüter», denen daran gelegen ist, dass sich «der Staat» gerade gegen «Asylanten» immer und eindeutig «durchsetzt», regelmässig zu hochroten Köpfen und oft genug geifernden Wortkaskaden führt.
Mehr als eine von vielen Kirchen
Nun ist die Gedächtniskirche in Berlin mehr als bloss eine von vielen Kirchen. Sie ist einerseits Architekturdenkmal, welches von Kriegszerstörung genau so berichtet wie von einem Wiederaufbau, der wenigstens zeitweise auf jegliches Schnörkelwerk zu Gunsten einer nüchternen Stadtarchitektur zu verzichten versuchte:
Der Turm ohne Wiederaufbau seiner durch sowjetische Kanonenkugeln abgeschossene Turmspitze, umgeben von einem kümmerlichen Rest der ehemaligen Kirchenhalle als Zeugnis von Zerstörung und ergänzt mit einem Ensemble in klassischer Architektur der Moderne aus «Bauhaus»- und anderen «Neues Bauen»-Elementen.
Anderseits ist diese Kirche ein Symbol, im Grunde genommen so ziemlich das einzige weltbekannt gewordene Symbol der ehemaligen «Frontstadt» respektive der vielbeschworenen «Insel» Westberlin.
Das bedeutet dann bis heute, diesen Westberlin-Kontext im Kopf:
Ein Symbol der «Freiheit», ideologisch für Jahrzehnte verbunden mit dem Begriff «Westen», ein Symbol gegen den «Kommunismus», gegen die «Unfreiheit», gegen die «Verknechtung Osteuropas» und so weiter.
Die eigentliche Mahnung, welche das Ensemble ursprünglich ausdrücken sollte, nämlich die Erinnerung an die Folgen des Hitlerregimes und des Krieges der Deutschen gegen die Welt, ging im sprichwörtlichen Gerede über den «westlichen Lichterglanz» unter, welcher da vor allem vom Ku-Damm her, fotogen verbunden mit dem abgehalfterten Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in den dunklen Osten hineinleuchte.
Der Namensgeber des Platzes – Rudolf Breitscheid – wurde von den Nationalsozialisten ausgebürgert und musste Asyl in Frankreich suchen.
Dieses Mahnmal, welches an die Stadtzerstörung durch Krieg erinnert, steht an einem Ort, der den Namen Breitscheidplatz trägt. Der Namensgeber des Platzes, Rudolf Breitscheid, war in der Weimarer Zeit ein bekannter sozialdemokratischer Politiker. Erst, 1918/1919, als Innenminister in der preussischen Revolutionsregierung und ab 1920 bis 1933 als einflussreiches Reichstagsmitglied. Breitscheid war ein parlamentarischer Aussenpolitiker, der die so genannte «Locarno-Politik» Stresemanns unterstützte, also den Ausgleich mit Frankreich genauso suchte wie die Eingliederung Deutschlands in den Völkerbund.
Von den Nationalsozialsten wurde Breitscheid, der im März 1933 in die Schweiz geflohen war und einige Monate später mit seiner Frau in Frankreich Asyl erhalten hatte, ausgebürgert:
Ein Ausgebürgerter, ein seiner Staatsbürgerrechte Bestohlener, der in Frankreich politisches Asyl gefunden hatte.
Breitscheid engagierte sich weiterhin im Kampf gegen die Nazis, zusammen mit vielen anderen Ausgebürgerten, Exilierten, Asylsuchenden, insbesondere mit Exilsozialdemokraten in der «Sopade», mit vielen Zwangsexilierten in der «Zentralvereinigung deutscher Emigranten» in Paris, auch in dem von Heinrich Mann geleiteten «Volksfront-Ausschuss».
Nachdem die deutsche Wehrmacht Paris besetzt hatte, flohen Breitscheid und seine Frau 1940 in das unbesetzte Marseille. Ein halbes Jahr später wurden sie und andere Antinazi-Engagierte vom Vichy-Regime an die Gestapo ausgeliefert. Die Gestapo sperrte Breitscheid und seine Frau nach monatelanger Haft in einem Berliner Gefängnis 1941 ins Konzentrationslager Sachsenhausen, ins grösste «Hauptstadt-KZ» in der Stadt Oranienburg in der nördlichen Umgebung Berlins.
Ab September 1943 wurden Breitscheid und seine Frau im KZ Buchenwald in einer streng bewachten «Prominenten»-Baracke «interniert». Am 24. August 1944 starb Rudolf Breitscheid, damaligen offiziellen Angaben zufolge bei einem Luftangriff auf Buchenwald.
Es gibt also, aus biografischen Gründen, eine Verbindung zwischen Breitscheid und Begriffen wie «Asylsuche», «Asylant» und auch «politisches Asyl».
Es gibt also, aus biografischen Gründen, eine Verbindung zwischen Breitscheid und Begriffen wie «Asylsuche», «Asylant», «politisches Asyl» und auch mit dem verwaltungsjuristisch geprägten Phänomen, welches man im deutschsprachigen Europa «Asylverfahren» nennt.
Rudolf Breitscheid wurde nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus ein Asylant. Wie viele ihrer Zeitgenossen mussten er und seine Frau, die Frauenrechtlerin Tony Drevermann, vor den Nazis fliehen – was im übrigen Europa allerdings keineswegs überall Asylverfahren für von den Nazis politisch Verfolgte mit dem Ausgang einer Asylgewährung ergab – auch nicht in der «neutralen Schweiz»!
Kirchenasyl wurde verweigert
Ein Kirchenasyl in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz wurde den demonstrierenden Asylsuchenden zwar verweigert, aber die Kirchgemeinde leistete ihnen Beistand in der Suche nach einer Bearbeitung und allenfalls einer Lösung ihrer Anliegen durch staatliche Stellen. Erst einmal erklärten Kirchgemeinde und Polizei, dass die Demonstranten nicht vom Platz vertrieben würden. Die Polizei erklärte, das Demonstrationsrecht der elf Flüchtlinge auf dem Breitscheidplatz sei gewährleistet, solange sie keine Zelte oder Hütten aufbauen würden.
Die Polizei erklärte, das Demonstrationsrecht der elf Flüchtlinge auf dem Breitscheidplatz sei gewährleistet, solange sie keine Zelte oder Hütten aufbauen würden.
Am Wochenende vom 17./18. Mai 2014 fanden in Berlin allerhand sportliche «Grossereignisse» statt, besuchsintensiv von einigen zehntausend Nichtberlinern genutzt erfahrungsgemäss das Pokalfinalspiel des DFB. Der Breitscheidplatz ist bei solchen Anlässen jeweils der Aufmarschplatz im Westen der Stadt. Das Olympiastadion liegt im Westen, also versammeln sich Fangruppen jeweils am Breitscheidplatz – meistens «friedlich», wenn auch nicht immer und nicht garantierterweise.
Um Zwischenfälle zu vermeiden, stellte die Kirchgemeinde – wohl in Absprache mit der Polizei – den Flüchtlingen in der Zeit zwischen Freitag- und Sonntagabend einen Raum für den vorübergehenden Aufenthalt zur Verfügung. Danach kehrten die elf Demonstranten auf den Breitscheidplatz zurück.
Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Problem der elf asylsuchenden Demonstranten vom Breitscheidplatz in der Stadtöffentlichkeit als Diskurs verarbeitet. Niemand stellt eine endgültige «Lösung» in Aussicht, die Beteiligten aus der Kirchgemeinde, aus Unterstützungskreisen, aus den Behörden des Stadtbezirks Charlottenburg und bei der Polizei schienen nicht unter Druck zu stehen, auch kaum einem medial inszenierten.
Und:
«Eigentlich hatte ich die Absicht, vom freundlichen und verstehenden Umgang zu erzählen, den man in Berlin mit Asylsuchenden pflegt….», um meinen Eingassatz am richtigen, dem innerhalb dieses Textes fortgeschriebenen Platz nämlich, hinzusetzen.
Aber:
Da erschienen am Dienstag über 100 Polizisten auf dem Breitscheidplatz und verhafteten die elf Flüchtlinge – in Juristendeutsch: Sie nahmen sie «in Gewahrsam, weil sie die Residenzpflicht verletzt hätten und um ihre Identität festzustellen». Dann wurden die meisten – es war die Rede von neun – nach Sachsen-Anhalt, ihrem durch das Asylverfahren zugewiesenen Aufenthaltsrayon, verschoben.
Ein potentielles «Lehrstück» von quasi urbaner Denkweise und anschliessender Handlungsstruktur, nämlich ein oft «permanenter» , auch «unentschiedener» Diskurs, ein Vergleich zwischen Recht und Verständnis beziehungsweise Solidarität, ein Vor- und Nachgeben und eine Neugier gegenüber Lebensformen, welche erst einmal ausprobiert werden sollen, bevor man sie in «Recht und Gesetz» prägt, ist über Nacht im staatlichen Rechtsraum mit seinem rigorosen polizeilichen Durchsetzungsanspruch verschwunden.
Richtig: Es gibt eine gesellschaftliche Normen-Notwendigkeit, welche der Rechtsgleichheitsgarantie geschuldet ist. Allerdings wird diese Rechtsgleichheit offensichtlich nicht überall und schon gar nicht gleichzeitig gegenüber jedermann, egal welcher Herkunft, welchen Status‘ usw. eine Person hat, durchgesetzt. Sie gegen Flüchtlinge, welche einen Rechtsstatus bloss schrittweise erlangen können, indem sie einem «Asylverfahren» ausgesetzt sind, durchzusetzen, ist zumindest nicht Ausdruck von grossartiger Staatskunst.
Die Abschiebung war kein Ausdruck grossartiger Staatskunst.
Insofern ist der Umgang mit den elf Asylsuchenden vom Breitscheidplatz, welche zu elf Demonstranten zu Gunsten der Erlangung ihrer persönlichen Rechtsgleichheit im Rechtsstaat Deutschland geworden sind, ein reales Lehrstück:
Je schwächer die Person oder die Personengruppe ist, um deren Schicksal es in einer Rechtsfrage geht, desto schneller kommt es zur «Durchsetzung des Rechts». Je mächtiger, je besser vernetzt, je reicher eine Person oder eine Personengruppe ist, desto weniger Durchsetzungskraft entwickeln die Organe des Rechtsstaates im allgemeinen, um «das Recht durchzusetzen».
Dieser Umstand wiederum erinnert an das Schicksal von Rudolf Breitscheid. Und irgendwie schliesst sich da ein Kreis – wenigstens symbolisch: Das Mahnmal hat eine aktuelle Bedeutung.
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Quellen:
1) Mayer Paul, «Breitscheid, Rudolf», in Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 579 f. und Deutsches Historisches Museum, Biografien.
2) Weitere Einzelheiten über das Schicksal von Tony Breitscheid-Drevermann.
3) Berichtet haben darüber die «Berliner Zeitung» und der «Rundfunk Berlin-Brandenburg» (rbb).