Das erste wirksame Medikament gegen Tuberkulose gab es erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Stadt Bern gelang es aber schon in den hundert Jahren davor, die Zahl der Tuberkulose-Toten um das Zehnfache zu reduzieren. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Wohnungsbau.
Im 19. Jahrhundert raffte die Tuberkulose in Europa jährlich Hunderttausende dahin. «In der Schweiz waren um 1900 fast alle Kinder mit dem Erreger angesteckt», berichtete der Epidemiologe Lukas Fenner von der Universität Bern gemäss einem Artikel in der jüngsten Ausgabe des Magazins «UniPress» der Hochschule.
Das erste wirksame Antibiotikum gegen die Lungenkrankheit, Streptomycin, stand erst ab 1948 zur Verfügung. Schon vorher gelang es der Stadt Bern jedoch, die Todesrate erheblich zu senken, wie das Forscherteam um Fenner in einer Studie im Fachblatt «PLOS One» nachgezeichnet hat. Die Forscher werteten Quellen aus der Zeit zwischen 1856 und 1950 aus dem Stadtarchiv aus, unter anderem Sterberegister, aber auch Daten zu den Wohn- und Lebensbedingungen in Bern.
Während 1856 noch 330 Personen an Tuberkulose starben, waren es 1950 nur noch 33. Im Zentrum dieses Erfolgs stand dabei die Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere durch Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung und bauliche Massnahmen.
Matte-Quartier als Infektionsherd
Zuvor waren besonders im Matte-Quartier viele Wohnungen überfüllt, feucht, mangelhaft geheizt, und die sanitären Anlagen genügten nicht. Ein perfekter Nährboden für die Tuberkulose, die durch Tröpfchenübertragung von Mensch zu Mensch springt. Entsprechend gab es in diesem Quartier die meisten Tuberkulose-Toten zu beklagen, wie eine Karte aus dem Stadtarchiv zeigt.
Nach einer ersten grossen «Wohnungsenquête» 1896 griffen die Berner Stadtbehörden genau dort an: Ab 1911 erwarb eine extra gegründete Baugenossenschaft Liegenschaften im Matte-Quartier und sanierte sie in den folgenden Jahrzehnten grundlegend. Teilweise wurden ganze Häuserzeilen abgerissen und neu gebaut.
Dabei wurden insbesondere mehr Fenster eingebaut, um bessere Frischluftzufuhr und mehr Lichteinfall zu ermöglichen. Bessere Belüftung dünnte die infektiösen Tröpfchen aus und das UV-Licht des Sonnenlichts tötete die Keime ab.
Ebenfalls eine Rolle spielte gemäss den Forschern die Eröffnung von Tuberkulose-Sanatorien, wo die Erkrankten viel Zeit an der frischen Luft verbrachten, sowie Freiluftschulen und die systematische Untersuchung von Schülerinnen und Schüler auf eine Infektion mit dem Tuberkuloseerreger.
Beispiel für wirksame Prävention
Diese Erfolgsgeschichte der Stadt Bern sei ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit konsequent durchgezogener Public-Health-Massnahmen, kommentierte Fenner. Zwar liegt die Infektionsrate mit Tuberkulose in der Schweiz heute bei nur noch 500 Personen pro Jahr, und dank des medizinischen Fortschritts stirbt hierzulande kaum mehr jemand an der Krankheit. Aber auch bei den heutigen medizinischen Problemen wie Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen bringe Prävention viel, sagte Fenner.
Ausserdem mache die Studie deutlich, dass Tuberkulose mit Armut und prekären Lebensbedingungen zu tun habe. «Das war einst bei uns so und ist heute noch in Ländern mit niedrigem Lebensstandard der Fall», so Fenner. Weltweit sterben laut Weltgesundheitsorganisation WHO immer noch weit über eine Million Menschen jährlich an der Lungenkrankheit. Auch da vermehrt Erreger grassieren, die gegen Antibiotika resistent sind, spielen Präventionsmassnahmen wie die Verbesserung der Lebensbedingungen eine wichtige Rolle.
Zwar lasse sich die historische Situation in Bern nicht eins zu eins auf die Entwicklungsländer übertragen, in denen Tuberkulose heute noch ein grosses Problem sei, räumt Fenner ein. «Doch die Mechanismen, die hinter der Ausbreitung der Tuberkulose stehen, sind genau die gleichen.»