Die Einschätzung der Schweizer Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften zum Brexit-Ja ist einhellig: Für die Exporteure wird der Entscheid der Briten zur Belastungsprobe. Und für die Politik rückt eine Lösung der Einwanderungsfrage mit der EU in weite Ferne.
Eine weitere Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro und dem Pfund wird allgemein als grösste Gefahr für den Werkplatz Schweiz gesehen. Der Franken gilt trotz Negativzinsen in der Schweiz in wirtschaftlich und politisch unruhigen Zeiten nach wie vor als sicherer Hafen.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse verweist darauf, dass Grossbritannien heute der fünftwichtigste Absatzmarkt der Schweizer Exportwirtschaft ist. Zudem sei das Land die Nummer vier für Schweizer Direktinvestitionen im Ausland. Die Verschiebungen an den Devisenmärkten und eine mögliche Rezession in Grossbritannien wirkten sich daher unmittelbar auf die Schweiz aus.
Erholung in der Industrie in Gefahr
Dies ist auch die Einschätzung des Verbands der Maschinen- Elektro- und Metallindustrie Swissmem. Die für dieses Jahr erhoffte Erholung in der Branche sei nach dem Entscheid der Britinnen und Briten in Frage gestellt. Grossbritannien ist die sechstgrösste Exportdestination der MEM-Industrie.
Auch für die Uhrenindustrie ist Grossbritannien ein wichtiger Markt, der siebtgrösste weltweit. Für Jean-Daniel Pasche, Verbandspräsident der Schweizerischen Uhrenindustrie (FH) ist es aber noch zu früh abzuschätzen, welche Auswirkungen der Brexit haben wird. Es sei unklar, ob die Uhrenhersteller auf Massnahmen wie Stellenabbau oder Kurzarbeit zurückgreifen müssen.
Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) hält fest, dass das Brexit-Votum nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und der Aufhebung des Euromindestkurses das dritte Ereignis in Folge ist, das die Phase der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit in der Schweiz verstärkt.
Gar als «verheerend» bezeichnet der Verband Handel Schweiz das Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union. Beim Entscheid gebe es nur Verlierer, zu denen auch die Schweiz gehöre. Denn die bilateralen Verträge mit der EU würden gegenüber Grossbritannien bald nicht mehr gelten.
Einwanderungsfrage steht hinten an
Zentraler sei jedoch die offene Frage der Abstimmung zur Einwanderungsinitiative. Die Schweiz müsse in den verbleibenden acht Monaten bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist alles daran setzen, mit der EU noch zu einer Lösung zu kommen, wie die bilaterale Verträge gerettet werden könnten, schreibt Handel Schweiz.
Ob dies gelingen wird, ist für die Verbände indes fraglich. Der Austritt Grossbritanniens werde die EU-Institutionen und die verbleibenden Mitgliedsstaaten in den nächsten Jahren stark absorbieren, gibt Economiesuisse zu bedenken.
Für den Arbeitgeberverband (SVA) ist es nicht auszuschliessen, dass die EU spezielle Lösungen ganz auf Eis legt, um keine Anreize für Grossbritannien oder andere EU-Länder zu setzen, ebenfalls Sonderwünsche zu äussern. Eine einseitige Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative könnte laut SVA daher unumgänglich werden.
Besorgt über Arbeitsbedingungen
Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) geht davon aus, dass die Gespräche mit der EU über die Regelung der Zuwanderung weiterhin ausgesetzt werden. Das dürfe aber nicht überbewertet werden. Denn der den Gesprächen zugrundeliegende Artikel des Freizügigkeitsabkommens sehe nur temporäre Massnahmen mit einem Einverständnis der EU vor.
Zur Verbesserung der Situation der Arbeitnehmenden in der Schweiz braucht es nach Ansicht des SGB jedoch dauerhafte, wirksame Massnahmen. Die Schweiz könne solche Bestimmungen auch unter dem Freizügigkeitsabkommen problemlos einseitig einführen, sofern diese unabhängig von der Staatsangehörigkeit zur Anwendung kämen.
Für die Gewerkschaft Syna zeigt das Nein der Briten, dass es für die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit zwingend wirksame flankierende Massnahmen zum Schutz von Löhnen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätzen braucht.