Der Basler Infektiologe Andreas Widmer schätzt, dass in der Schweiz jährlich 100 bis 300 Menschen sterben, nachdem sie sich in einem Spital mit der Grippe angesteckt haben. Betroffene Verbände verweisen darauf, dass die Impfung für das Personal freiwillig ist.
Barbara Gassmann, Vizepräsidentin des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), sagte auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda, das Gesundheitspersonal sei informiert und treffe Impfentscheide verantwortlich.
Letztlich sei es aber immer eine persönliche Entscheidung, gehe es doch um einen Eingriff in die körperliche Integrität. Der Verband gebe die Impfempfehlungen der Behörden jedes Mal weiter.
Gassmann warnte vor immer mehr Auflagen für die Gesundheitsberufe. Zu Zeiten des Fachkräftemangels machten sie die Berufe unattraktiv. Im übrigen sehe auch das Epidemiegesetz keine Impfobligatorien für Berufsleute vor.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hielt fest, in der Schweiz seien und blieben Impfungen grundsätzlich freiwillig. Spitäler und ähnliche Einrichtungen seien aber gehalten, Personal und Besucher auf die Risiken der saisonalen Grippe aufmerksam zu machen. Zudem soll das Thema auch in der Berufsbildung thematisiert werden.
Der Spitalverband H+ stellt sich auf den Standpunkt des BAG. Ungeimpfte sollten aber in der Saison eine Maske tragen, hiess es auf Anfrage. Jedes Spital könne Regeln erlassen. Allein die Pflegenden aufs Korn zu nehmen, gehe indessen nicht an, weil Besucher bei der Übertragung eine wichtige Rolle spielen.
«Viel Fundamentalismus»
Der Basler Spitalarzt Widmer hatte im Interview mit der «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche» gesagt, mit freiwilligen Massnahmen seien in der Deutschschweiz Impfquoten von 35 Prozent möglich. «Wir wissen aber, dass es für einen effektiven Schutz eine Impfquote von 50 Prozent bräuchte.» Darunter könne sich das Grippevirus immer noch in genügend grosser Zahl reproduzieren.
Er zeigte sich überzeugt, dass Todesfälle vermieden werden könnten, wenn sich das Spitalpersonal vermehrt impfen liesse. «Leider werden in der Diskussion simpelste wissenschaftliche Erkenntnisse missachtet. Wir haben es mit viel Fundamentalismus und Irrationalität zu tun.»
Angesprochen auf ein Modell aus dem Universitätsspital Genf, in dem ungeimpftes Personal in der Grippesaison eine Maske und ein Abzeichen tragen muss, sagte er: «Ein solches Modell schützt die Patienten, daher wäre es gut, wenn es schweizweit gälte.» Der Bund müsste dafür eine entsprechende Weisung herausgeben.
Kein Verständnis
«Für Hochrisikoabteilungen befürworte ich ein Impfobligatorium», sagte Widmer weiter. Wer besonders schwache Patienten betreue, müsse sich impfen lassen.
Für den Widerstand von Pflegeverbänden zeigt er kein Verständnis. Bei anderen Berufen gebe es auch Schutzmassnahmen und im Spital gehe es «um Patienten, um Leben und Tod».
Zur genauen Zahl der Grippeinfektionen und -toten, die auf eine Infektion im Spital zurückzuführen ist, gibt keine systematischen Erhebungen. Nur das Universitätsspital Genf erfasst gemäss dem Infektionsexperten Widmer solche Zahlen. Aufgrund dessen erschienen ihm 100 bis 300 Tote pro Jahr als «eine realistische Schätzung».
Widmer ist stellvertretender Chefarzt und Leiter der Abteilung für Spitalhygiene am Universitätsspital Basel. Zudem präsidiert er den Verein Swissnoso, in dem Ärzte in Kaderpositionen organisiert sind, die Informationen und Empfehlungen zu Themen wie Infektprävention oder Antibiotikaresistenz erarbeiten.