Die mangelhafte Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative treibt die Bürgerinnen und Bürger auf die Barrikaden. Nicht weniger als vier Bürgerkomitees haben am Dienstag vor den Medien in Bern eine Lanze für die direkte Demokratie gebrochen.
Die Steuerung der Zuwanderung sei das wichtigste politische Thema der letzten Jahren, sagte der Tessiner Politologe Nenad Stojanovic. Es sei daher extrem problematisch, wenn sich das Volk nicht zum Umsetzungsgesetz äussern könne. Damit überlasse man das Feld den populistischen Parteien, die der Classe politique «Landesverrat» vorwerfen könnten. Besser als eine Partei im Namen des Volkes sprechen zu lassen sei es, das Volk selber sprechen zu lassen.
«Institutioneller Putsch»
Stojanovic hatte das Referendum zunächst im Alleingang ergriffen. Der Funke sprang rasch über – eine «wunderbare Dynamik», wie er sagte. Inzwischen haben sich drei Komitees dem Einzelkämpfer angeschlossen. Auch für sie stehen nicht die Probleme der Zuwanderung, sondern demokratiepolitische Überlegungen im Vordergrund.
Ingrid Sigg von der «Bürgerrechtsbewegung Schweiz» sprach von einem «institutionellen Putsch». Ohne Referendum könne das Parlament in Zukunft bei jeder Initiative eine ganz andere Lösung diktieren als jene, die das Volk beschlossen habe. Ein solcher Präzedenzfall könne jede Gruppe treffen.
Auch für die Zuger Studentin Sandra Bieri ist es demokratiepolitisch höchst bedenklich, dass sich keine Partei für ein Referendum gegen die «Nichtumsetzung des Verfassungsauftrags» einsetzt. Sie will mit ihrem Engagement ein klares Zeichen «ans Establishment» setzen, dass das Volk in wichtigen Fragen nicht übergangen werden darf.
SVP gegen Referendum
Der parteilose Zuger Kantonsrat Willi Vollenweider rief zum «demokratischen Volksaufstand» auf. Die eklatante Missachtung des Volkswillens sei der beste Nährboden für radikale Bewegungen aller Art, sagte der Präsident der armeefreundlichen Gruppe Giardino. Zutiefst frustrierte Wutbürger würden mental in den Untergrund abtauchen und ihren Widerstand nicht nur verbal zum Ausdruck bringen.
Von allen Gegenkomitees geht es einzig Vollenweiders «Bürgerbewegung.ch» ausdrücklich auch um die Zuwanderung. Diese dürfe nicht noch jahrelang weiter bewirtschaftet werden – zum Gedeih gewisser Gruppierungen, aber zum Schaden der Schweiz.
Der Seitenhieb zielte auf die SVP, mit der sich Vollenweider zuletzt wegen der Armeereform überworfen hatte. Die Partei distanziert sich vom Referendum. Sie hatte sich früh auf den Standpunkt gestellt, dass man ein solches nicht gegen die Nicht-Umsetzung einer Initiative ergreifen könne.
Die SVP arbeitet stattdessen auf eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens hin. Die SVP-nahe Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) hat bereits eine entsprechende Initiative angekündigt.
Unterstützt wird das Referendum von den Schweizer Demokraten. Doch die Mittel der Referendumskomitees sind beschränkt. Für Bürgerinnen und Bürger ohne Geldgeber und ohne grosse Partei im Rücken sei es alles andere als einfach, 50’000 Unterschriften zu sammeln, sagte Stojanovic. Bieri rief «alle echten Demokraten, ob Linke, Rechte oder Unpolitische» dazu auf, Unterschriften zu sammeln und Geld zu spenden.
Umstrittene Umsetzung
Auslöser der politischen Betriebsamkeit ist die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die das Parlament in der Wintersession beschlossen hat. Die Vorlage sieht weder Höchstzahlen für die Zuwanderung noch einen Inländervorrang vor, wie es die Verfassung verlangt.
Die Mehrheit der Parlamentsmitglieder hatten sich auf den Standpunkt gestellt, die Initiative verlange die Neuverhandlung des Freizügigkeitsabkommens. Was gelte, wenn diese Verhandlungen scheiterten, sagte sie aber nicht. Um die bilateralen Verträge mit der EU nicht zu gefährden, beschloss das Parlament eine Art Vorzugsbehandlung für angemeldete Stellensuchende.
In Berufsgruppen, Tätigkeitsbereichen und Wirtschaftsregionen, in welchen die Arbeitslosigkeit über dem Durchschnitt liegt, müssen Arbeitgeber offene Stellen den Arbeitsämtern melden. Die Arbeitsvermittlung stellt den Arbeitgebern zudem die Unterlagen von passenden Bewerbern zu. Diese müssen geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu einem Bewerbungsgespräch oder einer Eignungsabklärung einladen.
Die Frist für das Referendum gegen diese Vorlage läuft am 7. April 2017 ab. Der Urnengang darüber dürfte am 24. September stattfinden. Auf der politischen Agenda steht auch noch die RASA-Initiative, die die ersatzlose Streichung des Zuwanderungsartikels verlangt, sowie ein direkter Gegenvorschlag des Bundesrats.