Der Bundesrat will die Masseneinwanderungsinitiative mit einer Schutzklausel umsetzen. Am liebsten hätte er dafür das Einverständnis Brüssels. Dort scheint die Haltung der Schweiz gegenüber nicht mehr ganz so hart zu sein wie auch schon.
Davon zeugen die insgesamt zehn Konsultationsgespräche, die laut Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in den letzten Monaten stattgefunden haben. Eine technische Lösung sei möglich, sagte Anfang Woche auch eine Sprecherin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Sommaruga sprach am Freitag vor den Bundeshausmedien ebenfalls von einer technischen Lösung. Eine solche soll auf dem Freizügigkeitsabkommen selber basieren. Dieses sieht vor, dass der Gemischte Ausschuss bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen «Abhilfemassnahmen» beschliessen kann.
Im Falle der Schweiz könnte diese Massnahme in einer Schutzklausel bestehen. Wenn eine Einigung darüber zu Stande kommt, würde dies sowohl die Bundesverfassung als auch das Freizügigkeitsabkommen mit der EU respektieren. «Ein gemeinsamer Weg bringt Rechtssicherheit», sagte Sommaruga.
Es gebe politisch viel guten Willen für eine solche Lösung. Die Bundespräsidentin glaubt auch, dass eine einvernehmliche Lösung im Interesse beider Seiten ist. Aber es seien schwierige Gespräche, vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklung in Grossbritannien. Bisher zeigten sich die Mitgliedstaaten unnachgiebig. «Eine Lösung gibt es noch nicht», stellte sie klar.
Einseitige Schutzklausel als Plan B
Für den ungünstigen Fall, dass dies so bleibt, hat der Bundesrat einen Plan B: Er will die Schutzklausel einseitig einführen, ohne Einverständnis der EU. Das Justiz- und Polizeidepartement hat den Auftrag, bis im März nächsten Jahres eine Vorlage dazu auszuarbeiten.
Wie eine solche Schutzklausel funktionieren würde, hat der Bundesrat erst grob skizziert: So soll bei der Zuwanderung von Angehörigen EU- und EFTA-Staaten eine bestimmte Schwelle festgelegt werden, ab der für das Folgejahr Höchstzahlen und Kontingente eingeführt werden.
Damit verschafft sich der Bundesrat ein Jahr mehr Zeit, um eine Lösung mit Brüssel zu finden: Auch wenn eine einseitige Schutzklausel nach Ablauf der dreijährigen Umsetzungsfrist im Februar 2017 in Kraft tritt, würde sie frühestens im Jahr darauf Wirkung entfalten.
Ab welcher Zahl von Zuwanderern die Schutzklausel greifen würde, ist offen. Sommaruga wies darauf hin, dass die Initianten bewusst darauf verzichtet hätten, eine bestimmte Grenze zu ziehen. Der Bundesrat werde die Zahl in einer Verordnung festlegen, unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen. Auch das sei ein Auftrag der Verfassung, sagte die Bundespräsidentin.
Das heisst, dass es eine regelmässige Anpassung braucht. Der Bundesrat würde dabei die Empfehlungen einer neuen Zuwanderungskommission berücksichtigen. Er würde auch bestimmen, für welche Bewilligungsarten und für welche Aufenthaltszwecke die Höchstzahlen gelten. Wie die EU auf die einseitige Einführung einer Schutzklausel reagieren würde, ist laut Sommaruga unklar.
Inländervorrang ungelöst
Ungelöst bleibt das Problem des Vorrangs inländischer Arbeitskräfte, den die Masseneinwanderungsinitiative zusätzlich zu den Kontingenten verlangt. Das inländische Arbeitskräftepotenzial sei bei der einseitigen Festlegung des Schwellenwerts berücksichtigt, lautete Sommarugas Antwort darauf.
Weiteres Pièce de résistance ist die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf das jüngste EU-Mitglied Kroatien. Nachdem die Initiative am 9. Februar 2014 angenommen worden war, erklärte der Bundesrat, dass er das entsprechende Protokoll nicht unterzeichnen könne.
Am Freitag beschloss er nun, dies trotzdem zu tun. In einer Erklärung will er klarstellen, dass sie sich bemüht, bis zur Ratifizierung die Vereinbarkeit zwischen dem Freizügigkeitsabkommen und der Bundesverfassung sicherzustellen. Eine einvernehmliche Lösung mit der EU würde es laut Bundesrat erlauben, die Erweiterung auf Kroatien zu ratifizieren.
Zur Umsetzung der SVP-Initiative hat er weitere Massnahmen beschlossen, die die Zuwanderung indirekt bremsen sollen. Eine Schutzklausel sei nur ein Teil einer Antwort, sagte Sommaruga. Ein anderer Teil ist die Aktivierung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Die entsprechenden Beschlüsse wird die Regierung aber erst in zwei Wochen fällen.
Keine Sozialhilfe für Stellensuchende
Weiter soll der Vollzug des Abkommens verbessert werden. So sollen Personen aus der EU, die zur Stellensuche in der Schweiz sind, keine Sozialhilfe beziehen. Der Bundesrat will auch Kriterien definieren, wann Arbeitslose ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Auch sie können von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden. Über Bezügerinnen und Bezüger von Ergänzungsleistungen sollen Ausländer- und Sozialversicherungsbehörden Daten austauschen können.
Eine Zusatzbotschaft will der Bundesrat zu den Integrationsbestimmungen im Ausländergesetz vorlegen. Dabei geht es um Erleichterungen für Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen, die sich dadurch besser in den Arbeitsmarkt integrieren sollen. Der Bundesrat schlägt vor, die Sonderabgabe auf Erwerbseinkommen von Schutzbedürftigen und Asylsuchenden abzuschaffen. Die Arbeit von vorläufig Aufgenommenen soll nicht mehr bewilligungs-, sondern nur noch meldepflichtig sein.
Die Zuwanderung von Angehörigen von Drittstaaten wird wie bis anhin kontingentiert. Neu soll es aber auch beim Familiennachzug, für Personen ohne Erwerbstätigkeit und für Asylsuchende Höchstzahlen geben. Im Asylbereich könnten diese allerdings überschritten werden, weil sonst zwingendes Völkerrecht verletzt würde, sagte Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration.