Letzter Tag in England. Ich treibe mich in Museen von Portsmouth herum, in die ich eigentlich gar nicht gehen wollte.
Ob Hafen oder Flughafen – sitzt man drin, hat alles, was hinter, und alles, was vor einem liegt, keine Konturen. Die bevorstehende Reise, das Einchecken, Schlange stehen, Einsteigen – das alles beansprucht alle Sinne, jede und jeder ist auf ihre und seine Art nervös, quatscht, sofern zu zweit oder dritt, irgendwelchen Unsinn zusammen, lässt, sofern Familie, das Kind an Automaten spielen, wie es das sonst nie darf. Man mimt Gelassenheit und zieht, sofern Raucher, eine Spur gieriger an der Zigarette, leert das Glas schneller, ortet die Hinweistafeln zu den Toiletten, schaut die Umstehenden an, verstohlen oder unverblümt, lässt sich schneller auf ein paar unverbindliche Worte ein, vielleicht geht jener oder diese dort auf dasselbe Schiff. Was sucht der in St. Malo – oder die dort?
Habe einen Tag lang auf diesen Moment gewartet: Es war unangenehm, so früh aufzustehen. Bin um sechs Uhr in der Früh im leeren und schmuddeligen Eingangsraum des Cleveland-Hotels gesessen, eine Putzcrew ist schnell in mein Zimmer hochgestiegen, hat sauber gemacht und ist verschwunden. Bin da gesessen, halb im Schlaf noch, bis gegen sieben eine junge Frau eintrat und mich fragte, was für ein Frühstück ich wünsche.
«Noch ein letztes Mal: Full english, please.» Ich war der erste und einzige Gast zuerst, hab langsam Kaffee getrunken, schweigend der Frau zugeschaut, zwei andere Gäste kamen, zwei weitere noch. Sie haben gegessen und sind gegangen, und ich gedachte, bis um acht Uhr im Frühstücksraum sitzen zu bleiben. Schliesslich musste ich mit nachher elf weitere Stunden in diesem doch eher trostlosen Portsmouth um die Ohren schlagen.
Weil es so kalt ist …
Es war hart zu schweigen und so begannen wir zu sprechen. Sie war Slowakin, sprach sehr gut Englisch und arbeitete für ein Jahr hier. Seit Dezember. Und dann unvermittelt: «Ich hasse dieses Land.» Warum? Weil es so kalt ist. Immer kalt und dazu ein schrecklicher Wind. Dem hatte sie nichts beizufügen, ausser dass sie mir riet, meine Zeit doch im alten Hafen zu verbringen: alte Kriegsschiffe, Navy-Museen, Ausstellungen.
Und so tat ich. War allerdings viel zu früh; schlenderte, schlenderte, schrieb Postkarten, zündete in der Kathedrale eine Kerze an, schickte gebrauchte Wanderkarten nach Hause und schlenderte weiter. Endlich gingen die Museen auf: Ein Kriegsschiff, eine Tut-Ench-Amun-Ausstellung, Dinge, die ich sonst nie angeschaut hätte. Ich staunte über das Kriegsschiff, schaute in alle Räume, in die Schreinerei, Offizierskantine, in die Kerker für Meuterer hinein, ein Kriegsschiff, 1860 vom Stapel gelassen für 700 Mann Besatzung mit fast 100 Kanonen und Zeit seines Seins hat dieses Schiff nie einen einzigen Schuss im Ernstfall losgedonnert. So stand es jedenfalls geschrieben auf einer Tafel. Dann die Tut-Ench–Amun-Ausstellung: In makabrer Detailtreue zeigten die Briten, wie sie Tut-Ench-Amuns Kopf aus dem Sarkophag hoben, ihn röntgen, um wissenschaftlich ein für allemal festgehalten zu haben, dass der Ägypter-König vor mehr als 3000 Jahren im Alter von gut 18 Jahren tatsächlich ermordet worden war.
Ein bisschen Trostlosigkeit
Undsoweiter, denn Portsmouth macht es schwer – es mag arrogant tönen – sich zwölf Stunden um die Ohren zu schlagen. Diese uninspirierte Hässlichkeit. Zwar verkleiden sie auch fünfzehnstöckige Hochhäuser mit roten Backsteinen, und es gelingt ihnen, diese so hinzumauern, dass sie halten. Alles ringsum, Fenster, Türen, Zufahrtswege, Gartenzäune lottert, rostet und bröckelt schnell und vermittelt eine graue Verwahrlosung. Wer hier wohnt, auch in all den zwei- und dreistöckigen Häusern, gibt sich keine Mühe, mehr zu scheinen als zu sein. Ein paar Hosen, T-Shirt drüber, die jungen Frauen legen mehr Wert auf kurze Leibchen als auf kurze Hosen, und es fröstelt einen, eingepackt in Jacke und Pullover, die hervorquellenden Wülste im Winde frieren zu sehen. Die Männer tragen die Haare kurz, brauchen sie nicht zu waschen und die Frauen, die in diesen Öden wohnen, versuchen sich den Kater vom Vorabend gar nicht erst wegzuschminken.
Aber Freundlichkeit, gelassene Freundlichkeit haben sie gelernt. Sie geht zwar nicht soweit, dass sie ihr Englisch einem ihren Dialekt nicht gewohnten Ohr anpassen, aber mit unerschüttlicher Geduld erklären sie einem das gleiche drei- oder viermal. In den immer gleichen Worten.
Wer in England, so scheint mir, nicht zu den Gutsituierten der Gesellschaft gehört, schlägt sich durch und will das gar nicht verstecken. In den Städten und stadtnahen Dörfern muss er auch nicht. Der Nachbar tut’s auch nicht und die Wirtin im Pub nicht und der Pöstler im Post-Office ebensowenig. Nur trägt der – oder sie – eine Art Uniform und fühlt sich hinter dem Schalter zu noch grösserer Höflichkeit verpflichtet. Wer Geld hat, wohnt in den Vororten, von Hecken umgeben. «Private».
Auf dem Land habe ich diese Unterschiede nie so krass gesehen.
Bye, bye England. Es hat mir gefallen. Ich hoffe, ich werde Euch alle hier in Frankreich nicht zu sehr vermissen, Eure Freundlichkeit, Eure verhaltene Herzlichkeit, Eure Unvoreingenommenheit, einen durchnässten und verschmutzten Gast aufzunehmen, ohne auch nur einen Moment den Verdacht aufkommen zu lassen, es könnte stören. In den Wanderhosen in ein gutes Restaurant sitzen, etwas zu essen bestellen und der Wirt, Kellner und die Serviertochter schauen einem ins Gesicht und nicht auf den Krawattenknopf. Obwohldoch die Schüler schon Krawatten tragen. Oder vielleicht eben gerade deshalb.
Humor statt Bluff
Bye, bye England – Eure Vorliebe für deftige Scherze wird mir fehlen, obwohl ich nicht alle Nuancen verstanden habe.
Ade England also. Mir war es immer wohl hier, statt des Bluffs hat sich der Humor ausbreiten können. Überall und immer.
Der Taxifahrer, der mich dick Eingemummten auf die Fähre führte, trug Shorts und T-Shirt. Ob er nicht friere, fragte ich. «Es ist Mai und die Sonne scheint», lachte er, «was soll ich da frieren?»
(Portsmouth, 29. Mai 2002)