Ein touristischer Ausflug ohne Rucksack – zuerst auf die Loire, dann ins grösste Loire-Schloss: Chambord.
Ein Sommertag, in verheissungsvollem Blau schon der Morgenhimmel. Ein Tag, an dem man sich ein kleines Gütchen, eine Ecke in einer Ferme oder auch nur ein kleines Ferienhäuschen in der Campagne wünscht – nein, nicht zu gross, nur grad, um einen feinen Kaffee zum Frühstück zu kochen, einen kühlen Weissen aus dem Kühlschrank zu nehmen, einen Liegestuhl oder eine Hängematte auszupacken – ja etwas Schatten, ein schönes Buch. Eher ein solcher Ort als fünfundzwanzig Kilogramm auf dem Rücken jedenfalls.
An diesem ersten Tag nach Sylvias Ankunft wollen wir die Wanderung erst mal gelassen angehen.. Ein Spaziergang, an schönen Landgütern vorbei. Es stehen, in frühsommerlicher Sonne und in Erwartung eines neuen Sommers viele verlassene Gebäude herum, hier an der Loire, wo sie so träg und bräunlich schwer vor sich hinfliesst.
Vor uns liegen in ein paar Büschen plötzlich farbige Boote, Kajaks, Kanus. Für zwei Burschen hat die Saison angefangen. Sie werden nun Wochenend für Wochenend hier sein, in der Saison im Juli und August wohl auch werktags ihre Boote vermieten. Und es ist zu verlockend. Wir fragen nach dem Preis, steigen ein und rudern zaghaft los.
Ein Ruderboot auf der Loire
Nach tage-, wochenlangem Marschieren in schweren Schuhen auf hartem, weichem, moosigem, morastigem oder sonst welchem Boden ist das ein wirklich anderes Erleben der Bewegung: Ruder ins Wasser stechen, ziehen und das Boot reagiert, bewegt sich. Und wenn wir zu zweit den Rhythmus finden, bewegen wir uns auch tatsächlich vorwärts. Flussaufwärts. Die Loire ist bräunlich, schleppt und trägt allerhand mit: Sand seit Jahrtausenden und was der sonstigen modernen Angelegenheiten sonst noch sind, natürlich auch. Sie ladet nicht wirklich zum Bade – aber sie graust einem nicht. Kein Abfall in den Büschen, die Ufer sind sauber, kleine Inselchen als Naturreservate ausgeschieden, Enten gucken den Ruderern erstaunt nach. Wir rudern aufwärts, aufwärts, anderthalb Stunden lang, plaudern, schwatzen – eine unverkrampfte Art, voran zu kommen. Und eine kleine Freude immer darauf, sich am Schluss wieder hinunter treiben zu lassen.
Später eine kleine Autofahrt, dorthin, wo ich gestern in grossem Bogen den Touristenpulk gemieden habe: Schloss Chambord. Das grösste Schloss in Frankreich, heisst es. Das Schloss allein sei eindrücklich und ebenso der Park – so gross wie Paris. Hab ihn gestern ein Stück weit durchwandert, auf all diesen schnurgeraden Wegen mit fürstlichen, ja königlichen Namen. Und nun, wie wir auf das Schloss zukommen, das in freundlichem Grau seine Türme – von weither durch eine Allee sichtbar – erhebt, da beeindruckt dieser Anblick schon sehr.
Eine Frechheit eigentlich. Eine Frechheit, dass vor fünfhundert Jahren ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling königlichen Blutes sich anmasste, dieses wahnsinnige Schloss zu bauen. Wie eigentlich lässt sich rechtfertigen, dass ein Mensch Tausende von Menschen arbeiten lässt, um so was hinzustellen, es später zu unterhalten? Was für ein Selbstbewusstsein braucht einer, ohne Scham über solchen Reichtum zu verfügen?
Es wuselt wie von Ameisen
Immerhin: Es liesse sich zu seinen Gunsten einwenden, dass Jahrhunderte nach seinem, Franz des Ersten, Ableben – im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert – Millionen von Menschen sich an diesem Wahnsinn, an diesem Prunk ergötzen können. Es mag einen anwidern, sich in diesen Touristenstrom einzugliedern. Unnötig! Schloss Chambord ist so riesig, dass sich die Leute wie Ameisen verlieren. Sylvia und ich staunen sogar, dass wir uns hinter einer angelehnten Türe plötzlich allein in ehemals königlichen Gemächern befinden. Eine strenge Kühle strömt das Schloss an diesem heissen Sommertag aus, eine Leichtigkeit auch und eine Weite. Von Türmen, Terrassen aus der Blick über endlose Wälder, über ein Kanalsystem, über die Stallungen, die zum Schloss gehörenden Bauernhäuser.
Offenbar ist der französische Staatspräsident oberster Zuständiger für Schloss Chambord, es soll zu offiziellen Staatsbesuchen immer wieder verwendet werden. Die vielen Feuerstellen sind deshalb zum Anzünden bereit und ein Geruch nach erkalteten Feuern hängt angenehm in den Räumen. Man kann noch so republikanisch denken und fühlen – es fasziniert, ein solches Schloss.
Ein schlauer Maire
Und um etwas Abstand vom Schloss zu nehmen, suchen wir uns im Orée de Chambord in Maslives ein Zimmer, das alles andere als prunkvoll ist – eines jener Hotels von recht grosser Schlichtheit, mit leicht genervten Wirtsleuten. Leicht genervt bis unfreundlich nach offenbar hartem Tageswerk. Vis-à-vis gehen die letzten Leute ins Wahllokal, der zweite Wahlgang ist angesagt. Der schlaue Maire hat einen Blumenmarkt hinter der Mairie anberaumt, um die Stimmbeteiligung zu heben. Musik, Kinderlärm und gegenüber dem Hotel drei Pariser Ehepaare, die ihre Autos packen und das Wochenendhaus vis-à-vis für fünf Tage schliessen.
(Maslives, 16. Juni 2002)