Cherut, der Engel vom Jaffa-Tor

Wie ein Traum sitzt im Jaffa-Tor eine junge Frau. Sie ist weiss gekleidet, spielt Schabbatlieder und scheint niemals traurig gewesen zu sein. Es ist Cherut mit der Harfe. An einem brütend heissen Freitagnachmittag zog ich durch die Gassen der Altstadt Jerusalems. Der Schabbat sollte in wenigen Stunden beginnen und alle trafen ihre letzten Vorbereitungen: Die […]

Cherut mit ihrer Harfe im Jaffa-Tor.

Wie ein Traum sitzt im Jaffa-Tor eine junge Frau. Sie ist weiss gekleidet, spielt Schabbatlieder und scheint niemals traurig gewesen zu sein. Es ist Cherut mit der Harfe.

An einem brütend heissen Freitagnachmittag zog ich durch die Gassen der Altstadt Jerusalems. Der Schabbat sollte in wenigen Stunden beginnen und alle trafen ihre letzten Vorbereitungen: Die Menschen gingen zur Klagemauer oder kehrten bereits von dort zurück, die arabischen Händler warfen ihr «Pita, Pita!» und «Ein Kilo Erdbeeren für zehn Schekel!» in die Menschenmenge, in der bloss die Touristen nichts von der Stille und Verlassenheit zu ahnen schienen, die sich bald auf die schmalen Strassen legen sollten. 

«Das Wichtigste an der Musik: Sie bereitet Freude.»

Cherut, Harfenistin

Inmitten dieses Gewusels hörte ich plötzlich Harfenklänge, die in ihrer Reinheit nicht in das allgemeine Gewirr aus Stimmen und Sprachen passen wollten. Neugierig folgte ich der Musik und fand Cherut – eine wunderschöne junge Frau im weissen Gewand, die in einer Nische im Jaffa-Tor auf ihrer kleinen Harfe Schabbat-Lieder spielte. Sie hatte die Augen nicht geschlossen und schien dennoch nichts von den Blitzen der Kameras und den bewundernden Blicken der Menschenmenge wahrzunehmen, die sich versammelt hatte, um dieser himmelsähnlichen Musik zu lauschen.

«Mauerblumen»-Blog: Die 21-jährige Baslerin Rahel Schlagbauer lebt seit diesem Frühjahr in Israel und berichtet von ihren Erfahrungen und Begegnungen im Blog «Mauerblumen» für die TagesWoche.

Die Religiosität als Zentrum

Doch als sie eine kurze Pause machte und ich sie ansprach, begriff ich, dass sie durchaus nicht in der Musik versunken gewesen war – ihr verträumter Blick, das weltvergessene Lächeln blieben in ihrem Gesicht. Sie hörte sich meine Fragen an, und ehe ich mich versah, war ich es, die ihr auf ihre Fragen antwortete anstatt umgekehrt. Schliesslich fand ich heraus, dass sie nur noch wenige Minuten hier sei, da der Schabbat bald beginne – ob sie religiös sei?

«Ja, deshalb spiele ich Schabbat-Lieder für die Menschen, um sie einzustimmen und ihnen Freude zu machen.» Ich wollte wissen, ob die Musik für sie eine Art Religion bedeute. «Ja und nein. Die Musik ist für mich nicht gleichzusetzen mit der Religion, obwohl die Musik das Zentrum meines Lebens darstellt. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit meinem Harfenspiel, das ich mir selbst beigebracht habe – aber die Musik ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, ich kann nicht mehr ohne sie leben. Sie tröstet mich, wenn ich traurig bin, und sie vermehrt mein Glück, wenn ich glücklich bin. Und das Wichtigste: Sie macht anderen Menschen Freude.» Dabei zeigte sie auf mich und die Zuhörer, denn während sie mit mir sprach, spielte sie unvermindert weiter.

«Musik und Religion? Beides ist mir heilig.»

Cherut, Harfenistin

Doch welche Rolle spielt die Religion in Cheruts Leben?

«Ich lebe in der Religion, ein Leben und Alltag ohne sie kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist nicht wichtiger als die Musik, trotzdem möchte ich nicht sagen, dass die Musik eine Religion ersetzen kann. Aber sie ergänzen einander. Stell dir vor, es wäre Schabbat und wir hätten keine Melodien, keine Lieder, die wir im Familienkreis singen könnten. Und stell dir vor, es gäbe all die religiösen Lieder nicht – wie viel ärmer wäre die Musikliteratur! Die eine braucht die andere, um sich in ihrer ganzen Schönheit und Wirkung erst entfalten zu können.»

Immer ein Platz frei für Cherut

Ich wollte noch etwas Konkreteres über Cherut wissen, nachdem sie mir erklärt hatte, was so etwas wie ihre Lebensphilosophie zu sein schien. So fragte ich sie nach ihrem nennenswertesten Erlebnis, das sie als Strassenmusikerin gemacht hatte.

Da gäbe es viele, antwortete sie und dachte nach. Plötzlich wurde das Leuchten auf ihrem Gesicht noch stärker. «Die Freunde, die man gewinnt – sie sind das Beste an meinem Dasein als Musikerin. Ich habe Freunde überall auf der Welt. Sie haben mich hier spielen gehört, man kam ins Gespräch und schon habe ich einen Platz in Kolumbien, in Deutschland, in Portugal. Stell dir vor, nächste Woche gehe ich nach Amsterdam und übernachte bei Leuten, die ich so kennengelernt habe wie dich jetzt!»

Und ich konnte nicht anders als ihr zu sagen, dass sich auch in meiner Wohnung stets ein Platz für einen Menschen wie sie finde.

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