Simon Jaquemets Spielfilmdebüt Überraschungen aus der Schweiz.
Stell dir vor es ist Krieg
Man tut gut daran, sich den Titel zu merken: «Chrieg». Man sollte ihn nicht vergessen, auch während man den Film sieht. Der Titel ist nämlich Programm: Ein Kriegsfilm. Im Herzen der Schweiz (Hoch Ybrig). Aber keine Angst: Noch herrscht nicht Krieg. Nur Alltag.
Simon Jaquemets erster Spielfilm
Simon Jaquemet ist in der Region Basel aufgewachsen und hat jetzt seinen ersten Spielfilm gemacht: Er hat aus etwa tausend Jugendlichen seine vier Hauptdarsteller ausgesucht. Er hat in den Produzenten von Hugofilm grosses Vertrauen gefunden. Jaquemet erfand eine Geschichte, von der man lieber die Finger lässt: Vier Jugendliche terrorisieren ein «Time-Out-Camp» für Schwererziehbare hoch oben in den Alpen.
Er beginnt seine Geschichte wie aus dem rauen Arbeitermilieu einer Londoner Vorstadt. Grossartig karg. Wortlos rau. Matteo lebt in der Zürcher Agglo. Fast stumm verstreichen die ersten Minuten in der Familie: Bei Tisch. Im Zimmer. Bei der Wiege des kleinen Brüderchens.
Weil Matteos Vater seine Männlichkeit bezweifelt, bringt er eine Prostituierte mit nach Hause, die er dafür bezahlt, seine Freundin zu spielen. Was Matteo zu sagen hätte, um mit seinem Vater klar zu kommen, verschluckt er. Anstatt aufzubegehren, schweigt er. Überhaupt ist Sprache nicht das Mittel der Konfliktbewältigung in seiner Familie. Matteos gesammeltes Schweigen aber erhöht langsam den Druck.
Wann führt der Druck zur Explosion?
Jetzt zeigt sich zum ersten Mal wohltuend, wie umsichtig Jaquemet seine Mittel einsetzt: Er lässt den Laien Benjamin Lutzke seine Stärke ausspielen; das wortlose Spiel. Er setzt als Mutter wuchtig und zart Livia Reinhard als Gefühlsquelle ein. In den ersten zwanzig Minuten des Films werden wir grossartig in eine an Ken Loach erinnernde Sozialstudie hineingezogen. Karg, hart, gewaltig wortlos.
Doch dann scheint die wilde Filmer-Phantasie mit dem Regisseur durchzugehen: Jaquemet lässt Matteo auf eine Alp verschleppen, wo er in ein Time-Out-Camp soll. In dem Camp haben die Schwererziehbaren längst das Regime übernommen. Sie sperren Matteo in einen Hundzwinger. Sie drangsalieren den Betreuer.
Der Film kippt – aber nicht in den Abgrund
Hoch oben in den Alpen stürzt der Film ab. Begann er eben noch scharf beobachtet im Agglo-Milieu, überschreitet er mit einem Schlag alle Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Doch das macht ihn jetzt erst richtig spannend! Jetzt zeigt Jaquemet nämlich, dass er wirklich Kino kann.
«Chrieg» schockiert mit einfachen Mitteln. Jaquemet stilisiert Gewalt. Er strapaziert unsere Höhenangst bis auf die Knochen. Weit über die Reissfestigkeit unseres Geduldfadens hinaus zeigt er sich plötzlich als ein Kenner des Gewalt-Film-Genres. Er lässt seine Truppe erst einmal «tollschocken», wie sie es in «Clockwork Orange» nannten. Er setzt den gutmütigen Alp-Öhi von Ernst Sigrist als ruhenden Pol dagegen.
Jaquemet braucht keine Handgranaten oder Drohnenangriffe, um uns mitten in eine kriegerische Welt zu führen. Wir tun gut daran, uns wieder einmal an den Titel zu erinnern. «Chrieg». Das ist es, was sich im Clash der Kulturen auf den Strassen unter Jugendlichen immer wieder anbahnt: Kriegs-Genre. Nur selten bricht dann – meist im häuslichen Rahmen – etwas Testosteron aus und führt wozu? Zum Generationenkrieg? Zu Männlichkeitsritualen? Zu Kriegslust? Terrorismusübermut?
Chrieg im stillen Alpental
Mann ist Mann
Benjamin Lutzkes Matteo fängt an, sich in den Männlichkeitsritualen zurechtzufinden. Dion zwingt Matteo zu einer Mutprobe. Hat Matteo im ersten Drittel des Filmes unsere Sympathien mit Wortkargheit gewonnen, bewahrt er sie sich jetzt mit stummem Ausharren: Er stellt sich dem Krieg. Er gewinnt auch schon die ersten Kriegsspiele. Er verunsichert den Anführer Anton, er zieht den Scharfmacher Dion mit.
Dabei stellt Jaquemet all die Gewalt ohne kommentierende Musik aus. Der Zuschauer soll selber entscheiden, wie er zu fühlen hat. Jaquemet durchbricht auch immer wieder die Glaubwürdigkeit, als wolle er seinen eigenen Film in Frage stellen. Und das ist gut so: Mitten im Krieg finden wir so Zeit über Mechanismen des Krieges nachzudenken. Etwa, als Dion von der Gruppe mit gebrochenem Fuss zurückgelassen wird, weil sie sich um den Feindkonakt kümmern wollen. Sie fahren in die Stadt zum Tollschocken.
Die endgültige Eskalation
Dann geschieht das dramaturgische Wunder: Jaquemet schafft es, die Fäden des Anfangs wieder aufzunehmen. Er bringt die Mutter, die zarte Gewalt, wieder unter eine Decke mit dem Sohn, der seinen Vater spitalreif prügelt. Er hält in seinem Krieg alles in der Schwebe, ohne es zu bewerten. Das sollen wir gefälligst selber tun.
Mit «Chrieg» sticht Jaquemet überraschend unpädagogisch aus den ausgewogenen, gut gemeinten oder einfach nur risikolosen Schweizer Spielfilmproduktionen heraus: Dieser Film ist ein Tritt in die Magengrube.
Kriegslust ist ein neu erwachtes Phänomen in den testosterongesteuerten Männerphantasien. Während an vielen Landesgrenzen die Mächtigen den Krieg vorbereiten, wollen auch Ohnmächtige ihre grenzenlose Kriegslust stillen. Jaquemet bietet mit «Chrieg» genau die richtige Gewaltorgie, um jenen Denkhilfen zu geben, die Krieg schüren, und uns über jene nachdenken lässt. Bevor alles aus dem Ruder läuft.