«Conducta» – was unter Haltung zu verstehen ist

«Conducta» zeigt eine Schule, die wir so nicht kennen: Die Schule des Lebens. «Conducta» liefert Bilder vom Rande des Salsa-Landes, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Ein Güterzug rollt mit  unaufhaltsamer Wucht – wie das Leben –  auf Chala zu. Wer nun glaubt, Chala sei in Lebens-Gefahr, täuscht sich. Der Geisterzug zwingt ihn von […]

«Conducta» zeigt eine Schule, die wir so nicht kennen: Die Schule des Lebens. «Conducta» liefert Bilder vom Rande des Salsa-Landes, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Ein Güterzug rollt mit  unaufhaltsamer Wucht – wie das Leben –  auf Chala zu. Wer nun glaubt, Chala sei in Lebens-Gefahr, täuscht sich. Der Geisterzug zwingt ihn von den Geleisen. Aber Chala hat mit dem Stahlkoloss nur gespielt – wie mit dem Leben.  

So wuchtig und poetisch wie Ernesto Daranas seinen Film beginnen lässt, so bewusst geht er mit der Bedeutung seiner Bilder um: Ein Güterzug ist in einem Land, in dem die Wirtschaft darnieder liegt, eine ironische Kulisse. Aber er ist auch eine Metapher dafür, wie man, inmitten von Ruinen, dem Leben begegnen muss – mit Phantasie.

Inmitten von Ruinen – eine Lehrerin will Haltung bewahren

Die Kinder haben eine Lehrerin, Carmela. Sie ist mit Herz und Seele Pädagogin. Sie weiss, dass Verbote nicht verstanden werden, indem sie befolgt werden. Klüger wird an ihnen nur, wer sie überschreitet. Das gilt auch für das klügste Mädchen der Klasse, Yeni.

Yeni, Chalas kluge Klassenkameradin, steht, wie Chala, ausserhalb der Gesellschaft. Sie ist illegal in der Hauptsadt. Aber Carmela, ihre Lehrerin deckt sie, weil sie die beste Schülerin ist. Yeni ist ihr dafür verbunden. Und doch macht sie einen Fehler: Sie heftet ein Heiligenbildchen ans Anschlagbrett der Schüler, als der Mann der Lehrerin stirbt. Das Bildchen ist dort verboten, und eigentlich müsste Carmela, (phantastisch gespielt von Alina Rodríguez) die alte Lehrerin, es wegnehmen. Aber Carmela lässt das Bildchen hängen. Nur, wer  Verbote nicht befolgt, findet sie, kann erfahren, was hinter dem Verbot steckt.

Bilder von grosse Lebensgier 

Die Jungs von Carmelas Schule spielen mit den Gefahren des Lebens. Chala züchtet Kampfhunde. Unter den Rädern der Stahlkolosses schärfen sie ihre Blechdeckel zu haarscharfen Messer. In den Güterwaggons verstecken sie sich vor den kichernden Mädchen.

Es ist die Kulisse des unbekannten Havannas, die diesen Film zu mehr macht, als einem Film über eine Schule im Kommunismus: Chala, der Junge zeigt dem Leben die Stirn mitten in lebendigen Ruinen. Chalas Mutter trinkt. Chala treibt sich mit zwielichtigen Männern herum. Chala, im Begriff, von der Bahn abzukommen, betreut für seinen Ziehvater Kampfhunde. Er züchtet zu Hause auf dem Dach Tauben. Mit beidem verdient er Geld für seine süchtige Mutter. Das alles ist der Schule ein Dorn im Auge.

Kommunismus statt Konsumismus

Diese Episoden verraten, wie präzise Ernesto Daranas mit seinen Studenten der Filmhochschule in Havanna seine Bilder-Ballade der Armen komponiert, und ganz am Bildrand verrät er uns auch, wer ihn gelehrt hat, widersprüchlichen Wahrheiten in Bilder einzufangen: im Hintergrund steht auf einem Plakat zu lesen: Pasolini.

Dieser Film spielt liebevoll mit der Klaviatur des realistischen Films – klassisch, literarisch, und, er wird von phantastischen Hauptdarstellern getragen. Chala (ein hinreissend erwachsenes Kind: Armando Valdés Freire) ist abwechselnd eine erwachsene Kinderfigur, wie sie Pier Paolo Pasolini in Italien hätte erfinden können, oder eine kindliche Erwachsenenfigur, wie der jungen Marlon Brando sie bei Tennessee Williams fand.

Mitten in den sterblichen Kulissen Havannas erweist sich Ernesto Daranas nicht nur als Kenner der grossen Realisten, er vermag auch die letzten Pracht einer sterbenden Hauptstadt der Not einzufangen.

Jugend heisst hier möglichst schnell erwachsen sein

«Conducta» führt uns vor Augen: Hier ist die Mehrheit der Menschen ganz ohne Konsumismus erwachsen geworden. Selbst unter den Kindern muss man sich ohne Warenüberfluss zu helfen wissen.

«Conducta» erlaubt einen Blick in die Pädagogik des in die Jahre gekommenen Salsa-Kommunismus. Bildung ist nicht geprägt von Konsumzwang. Sie lebt von Erfindungsgeist. Bildung lebt auch nicht in Jugendzwang. Sie lebt für die Wachsenden. 

Dabei spart «Conducta» nicht mit ironischen Referenzen auf die grosse Nostalgie. Wenn die Schüler vor dem Unterricht die kubanische Nationalhymne singen, klingt es vielstimmig falsch. Selbst der Siegesruf, der das Gesanges-Ritual mit dem Slogan abschliesst: «Wir werden stark sein wie Che», wirkt etwa so abgetragen, wie ein Che-Guevara-T-Shirt in einer D&G-Boutique.  

Im Kern – die Liebesgeschichte

Cha ist aber auch verliebt. Seine Angebetete, Yeni, lehnt seine Kampfhundezucht ab. Nicht nur, weil sie illegal ist. Aber Yeni ist selber kaum in der Situation, Chalas illegale Lebensgier verachten zu können. Sie ist selber illegal in Havanna. Yeni bräuchte Hilfe von Menschen, die für sie Gesetze übertreten. Bisher hat die Lehrein Carmela ihr geholfen, und sie in die Schule geschmuggelt.

Chala schafft den Spagat nicht. Zwischen Kampfhund  und Taube taumelt er im poetischen Raum: Er meistert die Realität seiner drogensüchtigen Mutter. Aber sein Schulalltag entgleitet ihm. Er setzt sich immer besser gegen die verfeindeten Jungs der Szene durch. Aber er verliert damit doch seine angehimmelte Yeni.

Nicht nur die Liebesgeschichte der beiden Kinder ist eine Treibfeder in «Conducta». Der Mutter Sohn-Konflikt ist Träger einer weitergehenden poetischen Kraft. Carmela, die Lehrerin übernimmt die Funktion der Mutter, der Fördererin, der Erzieherin, derweil die wirkliche Mutter Chalas zunehmend unter der Last ihrer Sucht zusammenbricht.

Kuba, das Gegenproramm zur Überflussgesellschaft

Ernesto Daranas konstatiert in Havanna eine beeindruckende Würde der Menschen am Rande der Gesellschaft. Diese Menschen verstossen gegen die Regeln des Systems. Sie entwickeln damit ein Neues. Sie führen einen bemerkenswert vielseitigen Diskurs des Widerstandes und – des Aufbaus.

Als die Direktorin der Schule Chala ins Heim stecken muss, hilft auch Carmelas Widerstand als dienstälteste Pädagogin der Primarschule, nicht mehr weiter. Wenn jetzt die Weichen nicht richtig gestellt werden, ist der Junge verloren. Aber ist die Verwwahrung im Heim, die ihn fürs Leben zeichnen wird, wirklich Rettung?

Ein Blick auf eine Gesellschaft die hungert   – nach Bildung

Und wieder kommt eine Stärke Daranas zum Tragen: Er erzählt seine Geschichte aus den Widersprüchen seiner Figuren. Die Lehrerin riskiert alles. Sie sieht sich als die übergeordnete pädagogische Belohnung. Wenn sie wegen Chala gefeuert wird, dann wird er daran wachsen.

Carmela macht sich selber zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Dramaturgie: Ihr Widerstand ist Programm. Ihre Regelüberschreitungen sind die Schule des Lebens. Ihr Lernstoff heisst: Wer sich anpasst, bringt es zu nichts – er kommt nicht einmal zu sich selbst.

Ganz am Ende, gibt Carmela der neuen Direktorin auf die Frage –  was denn nun mit dem verbotenen Heiligenbildchen an der Anschlagswand zu geschehen habe? – eine spitze, offene Bemerkung mit auf den Weg: «Ich glaube, du hast wirklich gar nichts gelernt aus allem …»

Gute Haltungsnoten

Es gibt also, neben den Hauptdarstellern, dem zerfallenden Havanna, dem echten Klang eines Oldtimer-Achtzylinders etc., hier vor allem einen Bildungs-Diskurs zu finden, der noch von «Conducta» spricht, nicht von Lehrstoff: Die Bildung, die hier gemeint ist, zielt auf  «Haltung» und Persönlichkeit.

«Conducta» bedeutet auch: «Betragen» –  jene Note, die bis in die Siebzigerjahre auch in unseren Zeugnissen ganz unten stand, dort, wo die Eltern zuerst  – und die Lehrer zuletzt hinschauten. Sehr Gut. Gut. Befriedigend. Unbefriedigend.  «Conducta» macht deutlich, was der Film unter «Haltung» versteht: Unterhaltung mit politischer Haltung. Sehr gut.

 

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