Critical Web 2.0 Studies und die Botschaft der neuen Medien

Buchreview zu „Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur“ von Geert Lovink  (2012) // In seinem im Frühjahr 2012 erschienenen Buch Das Halbwegs Soziale vermerkt der australisch-niederländische Medienwissenschaftler Geert Lovink „eine neue Welle von Netzkritiker wie Siva Vaidhyanathan, Sherry Turkle oder gar Evegeny Morozov“ Netztheoretiker folgen also der Forderung „to rethink the Web 2.0 hype“, […]

Buchreview zu „Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur“ von Geert Lovink  (2012) //

In seinem im Frühjahr 2012 erschienenen Buch Das Halbwegs Soziale vermerkt der australisch-niederländische Medienwissenschaftler Geert Lovink „eine neue Welle von Netzkritiker wie Siva Vaidhyanathan, Sherry Turkle oder gar Evegeny Morozov“ Netztheoretiker folgen also der Forderung „to rethink the Web 2.0 hype“, die Lovink gemeinsam mit Ned Rossiter und der italienischen Gruppe Ippolita schon 2009 in den 10 Web 2.0 Thesis erhob. Lovink selbst, der sein Buch Eine Kritik der Vernetzungskultur untertitelt, gehört zweifellos zu den vehementesten Verfechtern einer kritischen Netztheorie. Was hat er gegen das Web 2.0 vorzubringen? 

(Bild: x)

Wovon handelt das Buch? Von der ent-täuschenden Einsicht, dass das Web 2.0 keine wirkliche Subkultur hervorbringt, sondern die bisherige Anarchie des WWW ökonomisch und politisch zähmt.  

Inwiefern? Beispiel Facebook, das für Lovink das Ende der „Parallelkultur eines »zweiten Selbst«“ bedeutet durch die Forderung nach „kohärenten, singulären Identitäten, die mit den Daten der Polizei wie der Sicherheits- und Finanzinstitutionen übereinstimmten.“ Die Kapitelüberschrift dazu lautet: Anonymität und die Krise des multiplen Selbst. Lovink erklärt diese mediale Entwicklung aus geschichtlichen Prozessen. Das Datum des Paradigmenwechsels ist ihm der 11. September 2001, der Transparenz schon aus sicherheitspolitischen Gründen zum Gebot der Stunde und letztlich auch der Zukunft des Internet machte.  

Ist das Lovinks zentrale These? Lovinks zentrale These steckt im englischen Originaltitel des Buches: Networks Without a Cause. Die Netzwerke haben nach Lovink kein Anliegen außer sich selbst. Die demokratischeren Partizipationsformen zielen nicht auf die Verbesserung der Gesellschaft, selbst die meisten Blogger pflegen nur eine „Kultur des »beteiligungslosen Engagements«“. Im sogenannten „kommunikativen Kapitalismus“ nehme der Diskurs zwar mehr Raum ein, habe aber keinerlei politische Macht. Das Internet, so Lovinks Resümee, taugt nicht mehr für politische Utopien; vielmehr nehme es immer stärker dystopische Züge an. 

Was sind andere Schlagworte aus dem Buch? „computational turn“, „dialektische Programmierung“, „gefährliches Design“, „Paolo Alto als nächster Kreml-Vatican“, Medienabstinenz als Beweis von Medienkompetenz.

Haben Sie einen Lieblingssatz? Eine Nachbemerkung zum Problem von Privacy und Transparenz: „It is not simply that we have something to hide. Let’s hope we all do.“ Meine Lieblingspassage auch deswegen, weil der zweite Satz in der deutschen Übersetzung fehlt – als solle das deutsche Publikum nicht zu Geheimnissen ermuntert werden.

Gibt es Probleme mit dem Buch? Das Buch scheint formal dem Hyperactivity-Modus seines Gegenstandes zu verfallen, wenn es Gedankensplitter und kernige Formulierungen über subtile Diskussion und geduldige Fallstudien stellt. Dies ist gewiss auch Resultat seiner Entstehungsgeschichte: Das Buch ist keine durchstrukturierte Untersuchung, sondern die eher weniger als mehr aufeinanderbezogene Sammlung eigenständiger Aufsätze.      

Ein Beispiel? Man wünscht sich zum Beispiel eine Vertiefung der Hauptthese über die Selbstgenügsamkeit der Netzwerke. Inwiefern ist diese tatsächlich eine Folge der ökonomischen und politischen Domestizierung des Internet und inwiefern eher eine Reaktion auf die geschichtsphilosophische Endzeiterfahrung? Der Befund hätte theoretisch ausgewickelt werden können durch die Kontrastierung mit anderen Beschreibungsmodellen der Gegenwart: das Ende der Geschichte, der großen Erzählungen, der Politik, des Optimismus. Tritt hier vielleicht die Technologie an die Stelle der Sozialutopie und hat damit ihren cause ganz folgerichtig in sich selbst? Wäre dies gar als List der Vernunft verstehbar?     

Gibt es mehr Probleme? Lovinks Pauschalabrechnung mit der Medienwissenschaft irritiert. Denn zum einen ist es keineswegs absurd, Foucault auf Facebook anzuwenden oder Baudrillard auf Wikipedia – jedenfalls nicht, wenn man sich einer kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft verschreibt. Zum anderen erfolgt die Forderung nach einem quantitative bzw. qualitative turn in den Digital Studies zu unreflektiert. Denn dieser Turn bringt bekanntlich auch die Gefahr mit sich, den kritischen Impetus, den Lovink eingangs ja einklagt, zu kompromittieren durch den Fokus auf die Gewinnung positiven Wissens mittels umfangreicher Datenanalyse.  

Warum sollte ich das Buch lesen? Das Buch arbeitet zwar nicht ohne Widersprüche und Inkonsistenzen, aber immer inspirierend kapitelweise die wichtigen Themen der Web 2.0-Kultur ab: Facebook, Google, WikiLeaks, Weblogs, Internet-Radio, Informationsüberflutung, Kommentarkultur und Online-Videoästhetik. Und es hat, bei allen formalen und inhaltlichen Problemen, das Herz am rechten Fleck.  

Woran erinnert Sie das Buch? An das Manifest Kybernetik und Revolte des französischen Autorenkollektiv Tiqqun im Jahr 2001, das mit scharfen – und zumeist unpräzisen – Worten den kybernetischen Kapitalismus angriff und so wie Lovink jetzt zum Widerstand aufrief. 

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