Roberto ist ein genauer Mensch. Punkt 23 Uhr löscht er das Licht, um zu schlafen. Roberto hat seinen Lebensplan im Griff. Obwohl er es mit der Zeit genau nimmt, lebt er nicht mehr ganz zeitgemäss. Er zählt die Hunderterpackungen Stahlstifte von Hand nach. Er rechnet noch mit einer Registrierkasse. Die Zeit vergeht bei ihm nur in Zeitungen: Um sich über seine Einsamkeit hinwegzutäuschen sammelt er Berichte über aufsehenerregende Zufälle.
Cuento Chino
Roberto ist ein genauer Mensch. Punkt 23 Uhr löscht er das Licht, um zu schlafen. Roberto hat seinen Lebensplan im Griff. Obwohl er es mit der Zeit genau nimmt, lebt er nicht mehr ganz zeitgemäss. Er zählt die Hunderterpackungen Stahlstifte von Hand nach. Er rechnet noch mit einer Registrierkasse. Die Zeit vergeht bei ihm nur in Zeitungen: Um sich über seine Einsamkeit hinwegzutäuschen sammelt er Berichte über aufsehenerregende Zufälle.
Bis er selber einen ebensolchen erlebt. Das Schicksal spuckt ihm einen Mitmenschen vors Auto. Einen Chinesen – keinen unfreundlichen Gesellen, aber einen unverständlichen: Der Chinese spricht zwar viel, aber kein einziges Wort argentinisch. Roberto nimmt ihn auf (ungern), beschäftigt ihn in seiner Eisenwarenhandlung (notgedrungen), lässt nach einem Onkel suchen (verzweifelt), gerät mit der Obrigkeit in Konflikt (handgreiflich), bis er den Chinesen wieder loswerden will (sofort).
„Un Cuento Chino“ ist einer dieser grossartigen, lakonischen Filme, die aus dem heissblütigen Argentinien zu uns kommen: Wir kennen Ricardo Darin aus „El segreto de sus ojos“ und den „Nueve Reinas“. Wir haben vom Regisseur Borensztein noch nicht viel gehört. Jetzt merken wir ihn uns. Es ist ihm ein Film gelungen, der mit leisem Humor und literarischer Genauigkeit widersprüchliche Lebensentwürfe gegenüberstellt: den peniblen Solipsisten dem anonymen Workoholiker. Den Wanderarbeiter gegen den Sesshaften. Den Wortlosen gegen den Sprachlosen. Dies eben macht den Film so unwiderstehlich, dass er sein Thema so schlicht und reich verzweigt variiert. Zu unserem Vergnügen.
Roberto beisst sich an der schier unlösbaren Aufgabe fest, den standhaften Chinesen seinen Verwandten zuzuführen. Doch die Frist des Chinesen läuft aus. Auch die Geduld für den Chinesen geht langsam verloren. Langsam gleitet Robertos Leben punktgenau pünktlich an ihm vorbei. Selbst die Liebe klopft vergeblich bei ihm an.
Es ist ein herrliches Gegensatzpaar, das da durch Reibung Wärme erzeugt. Auf der einen Seite Roberto, an dem die Welt vorbeizieht, der sich wehrt – nicht gegen den Lauf der Dinge, aber gegen die Mitläufer um ihn herum, der sich mit einem Polizisten in die Haare gerät, der die Beamten der chinesischen Botschaft beleidigt, der auf verlorenem Posten kämpft. Auf der anderen Seite der bescheidene Chinese, ein Geduldiger, ein Sprachloser, ein Verstossner, der plötzlich – erneut durch Zufall – zu Robertos Retter vor dem Totschlag wird.
So kämpfen in dem literarischen Erzählfluss von „Un Cuento Chino“ der Plan gegen den Zufall, und am Ende gewinnt der Plan – aber fast so zufällig, wie in der kleinen Begebenheit, die am Anfang des Filmes steht, das Unglück über das Glück siegt: Eine Kuh fällt vom Himmel und trifft ein verlobtes Paar, mitten in einer Verlobungs-Zeremonie. Ebenso treffen wir am Schlusses von „Cuento“ auf eine Kuh. Der Chinese hat sie Roberto gross an die Wand gemalt. Warum? Das weiss Roberto, und er zieht den richtigen Schluss aus seinem Wissen: Eher fällt eine Kuh vom Himmel, als dass Roberto sein Leben ändern würde. Aber eben: Die Kuh fiel vom Himmel.