Eine Bäuerin schwärmt von der guten alten Zeit, als ihr Grossvater noch lebte. Sie weist mir den Weg zum Trasimenischen See, wo trostlose Touristen-Flaute herrscht. Da hilft der Gang ins Kloster.
Kein Mensch auf dieser Welt würde dieses Gehöft in der Ebene von Castiglion Fiorentino, in das man mich gewiesen hat, als Idyll bezeichnen. Von der Landstrasse her kaum zu sehen, ein weisser Bau einfach, und ohne Wegweiser. Kaum ein Mensch ginge freiwillig dorthin. Wenn nicht die Cousine der Bäuerin mich dorthin geschickt hätte, wäre ich achtlos dran vorbei gefahren.
Das kleine Appartement war sehr geschmackvoll eingerichtet. Ein alter Schrank in der Küche, ebenfalls einer im Schlafzimmer, daneben ein schlichtes Metallbett, alles auf Tonboden, Wände und Decken weiss gestrichen. Manchmal hörte ich irgendwo einen Zug vorbeifahren, hinter dem Haus zirpten die Grillen, Hunde gaben an, im Büchergestell standen Bücher über Jesus und eine Sammlung von Zeitschriften über biologisches Gärtnern, die ältesten Ausgaben aus dem Jahr neunzehnhundertvierundachtzig.
Die Bäuerin bat mich am Morgen zum Kaffee, fragte mich, ob ich etwas Milch wolle und schenkte mir einen Tropfen aus ihrer Tasse in die meine. Sie trinke am Morgen nur Milch, reine Milch – aber was für Milch das heutzutage sei! Wasser, reines Wasser. Früher, als der Grossvater noch gelebt und eigene Kühe gehabt habe, ja, da gab es noch Milch. Sie sehne sich nach dieser Milch, möchte wieder Kühe.
Ein seltsames Paar
Wir sassen vor dem Haus in der Sonne, berichteten über dies und jenes, sie arbeitet auf diesem Hof, lebt hier, der Mann, der sich mal dazu setzte, war fünfzehn Jahre älter, war vielleicht ihr Mann, vielleicht ihr Bruder. Sie waren sich so fremd, hatten aber die gleiche Kasse, wie ich beim Zahlen merkte – sie steckte meine Note ein, er gab das Herausgeld.
Die Frau bemühte sich, geheimnisvoll zu sein. War sie wirklich die Bäuerin? Sie trug wie am Abend Shorts und ein Trägerleibchen, war braungebrannt, trug das blonde Haar lang und offen. Ihr Schwärmen über die guten, natürlichen Dinge auf dem Hof wirkte ein klein wenig übertrieben; ich versuchte, sie über Kinder auszufragen, erhielt keine Antwort. Über ihr Tun, ihren Beruf, sie wich aus. Sie wollte viel über meine Reise wissen, wunderte sich, dass ich nicht die grell-farbenen Veloanzüge trage, weil doch da das Gesäss gepolstert sei und als der Mann, der vielleicht doch ihr Gatte, vielleicht ihr Bruder war, sich wieder hinsetzte und Brot in den Kaffee zu tunken begann, fragte ich nach dem Weg.
Die beiden beschrieben mir eine Nebenstrasse hinunter zum Trasimensischen See und dort dem Ufer entlang nach Passignano. Der Weg war wunderschön, kein Verkehr, leichte Steigungen, kleine Abfahrten und als ich um halb zwölf erstmals das Wasser des Sees erblickte, überquerte ich auch gleich die Grenze von der Toskana nach Umbrien.
Rasch wechselnde Eindrücke
Die Welt, die Landschaft begegnet einem anders auf dem Velo als in den Wanderschuhen. Schneller zieht sie vorbei. Rascher wechselnde Eindrücke, aber es ist nicht so, dass man sehr viel weniger sähe: Die Aufmerksamkeit, die das höhere Tempo erfordert, hält wacher. Das spontane Anhalten und Schauen ist jederzeit möglich. Ich glaube nicht, dass ich Eindrücke verpasse, ich versinke einfach nicht mehr so stark in den Rhythmus der Schritte, der auch die Gedanken lenkt und sie manchmal kreisend am gleichen Punkt hält.
Der Himmel meist bedeckt, nur selten bricht die Sonne durch, und es ist angenehm zum Fahren. Die Landschaft verändert sich stündlich, wird in für mich ungewohntem Tempo südlicher. Die Gräser auf den Wiesen werden dürrer, strauchiger, eine ältere Frau im blau-gemusterten Arbeitskleid zupft von gelblichen, kerbel-ähnlichen Pflanzen Samen. Sie wird irgendein Gericht damit verfeinern. Später steige ich ab, koste diese Samen. Sie schmecken nach Anis. Wilder Fenchel. In einem Garten rüstet eine Grossmutter mit ihrer Enkelin Bohnen. Ich sehe es, stelle es fest, aber die Gedanken können nicht verloren über diesem Bild kreisen – Ortsschilder brauchen die Aufmerksamkeit.
Das Fest der Linken
Passignano soll ein Touristenort sein, wirkt aber eigenartig leer. Kaum Menschen auf der Strasse, in den Kaffees, am Ufer. Der Wind bläst heftig trasimensiche Wellen an den Strand, die Linke rüstet für ein Fest, stellt Stände auf, klebt Plakate. Forza Italia macht kein Fest, Forza Italia verzichtet darauf, Berlusconi beherrscht die Medien, und die Fernsehen tragen seine Botschaften pausenlos in Stuben und Bars. Auch ohne Fest.
Der See ist grün und leer, die Strände auch, Boote und Yachten aufgedockt. Wann, wenn nicht jetzt, kommen die Touristen hierher? In einer Zeitung lese ich später, in der Region – besonders in Assisi – sei der Tourismus eingebrochen. Zu schlechtes Wetter.
Fahre über einen Pass am Ende des Sees, nähere mich rasch Perugia. Seltsam, diese Geschwindigkeit. Zu Fuss wäre der Weg öde gewesen, durch diese Ansammlung von Tankstellen, Einkaufszentren, zwischendurch Bars und Restaurants, Industrielandschaften, Plätzen mit Fahrzeugen, die vor sich hinrosten.
Perugia vor mir auf einem Hügel. Die Stadt lockt: Den Hügel hinaufsteigen, in meiner Aufmachung als doch ziemlicher Fremdkörper durch die wahrscheinlich malerische Stadt gehen wie gestern durch Arezzo? Ich verzichte, biege auf einer Einfallstrasse nach links ab, leide plötzlich unter schmerzhaftem Hunger, wie mir das beim Gehen nie passiert ist und kehre in einer Bar ein.
Chiuso per ferie
Morgen wird die Bar schliessen. So steht es auf einem Schild. Ferienhalber bis zum zweiundzwanzigsten August. Ein Mann sitzt dort, isst zu Mittag und ich bestelle Roastbeef und Kartoffeln, trinke Eistee. Ein trostloser Raum, nichts von italienischer Verspieltheit, nüchtern und kahl und halt doch auch ein Teil von Italien. Der Mann wischt den Mund ab, zahlt, sagt: «So, dann habt ihr jetzt Ferien – wohin geht ihr?» «Ach», sagte die Wirtin, «ich bleibe zu Hause, ist doch auch schön.» Und er sagt, ja dann auf Wiedersehen am dreiundzwanzigsten.
Das Essen lag schwer auf, ich fuhr nach Pila, San Martino in Colle, San Martino in Piano, nach Toglione, immer südwärts auf kleinen Landstrassen. Bergauf zu Fuss und da erwachte jeweils die Sehnsucht nach dem alten Tempo. Es ist ja auch dies: Man geht vorwärts, Schritt für Schritt, alles ohne sich bewusst zu sein, sich wirklich zu bewegen, man geht mit der Geschwindigkeit, die uns zugeschrieben ist. Die Landschaft bleibt sich gleich, die Sicht, sie ist wie eine Kulisee, an der man sich voran bewegt. Sie verändert sich nur unmerklich, die Kulisse, man muss schon darauf achten, um zu sehen, wie sich die Perspektiven langsam verschieben – und es braucht oft Stunden, bis ein markanter Punkt, ein Berg vielleicht, einem bewusst macht, dass man eine Distanz hinter sich gebracht hat. Auf dem Velo fährt die Kulisse einfach so vorbei.
Ein hoher Berg tauchte plötzlich vor mir auf, rundum bewaldet, oben kahl. ich erschrak, als ich ihn nach einer Stunde hinter mir sah.
Und dann noch das: Beschwerdefrei bin ich die letzten Wochen vorangekommen. Nun belaste ich andere Muskeln und sie reklamieren. Das Gesäss tut weh.
Albergo im Kloster
Um fünf fuhr ich einem Dorf «von touristischem Interesse» ein: Bevagna. Kopfsteinpflaster, Steinplatten, ein paar promenierende Franzosen und Deutsche, Souvenirläden, enge Gassen, Torbögen überall. Man wunderte sich ein bisschen über mein Gefährt und ich bog in einen dieser Torbogen ein, sah, dass ich im Rundgang eines ehemaligen Klosters stand. Ein Albergo. Ich habe ein Zimmer erhalten, der Wirt bat mich, das Velo mit dem Lift in den oberen Rundgang zu fahren. Eine ganz hübsche Zelle habe ich da erhalten.
Bin ein bisschen durchs Dorf promeniert, hab das Theater angeschaut: einundsechzig samtüberzogene Sessel, sechsunddreissig Logen auf drei Etagen, einmalig. Der Pfarrer zeigte mir die romanische Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, die alten, schlichten Fresken und nun sitze ich im Rundgang, schreibe und frage mich, ob meine Kerzen in der Kirche wohl noch brennen.
(Bevagna, 9. August 2002)