Das Baselbiet schiesst wieder in die Höhe

Die Hochhausprojekte in Münchenstein und Pratteln sind erst der Anfang: Die erwartete Zuwanderung wird das untere Baselbiet radikal verändern.

Die Hochhausprojekte in Münchenstein und Pratteln sind erst der Anfang: Die erwartete Zuwanderung wird das untere Baselbiet radikal verändern.

Ausgerechnet in Münchenstein soll die Zukunft des Baselbiets angefangen haben? Das zu glauben, fällt einem als Münchensteiner schwer. Denn in Münchenstein hat nie irgendetwas angefangen. Bis heute wartet die Gemeinde auf ein Zentrum. Einer der wenigen lebendigen Orte, eine von der SP gestiftete Feuerstelle am Waldrand, hat die Verwaltung auf Bitten von angrenzenden Schrebergärtnern mit Beton auffüllen lassen.

Münchenstein ist da gar nicht anders als andere Basler Vorortsgemeinden, die in erster Linie versuchen, im Gleichgewicht zu bleiben. Sie wollen stabile Steuereinnahmen, stabile Einwohnerzahlen, ein stabiles soziales Gefüge. Sie wollen keine Aufregung.

Hochhaus statt Gärtnerei

Jetzt aber wird alles anders: Münchenstein bekommt ein Hochhaus. 42 Meter hoch soll es werden, vorgesehen auf dem Gelände der ehemaligen Gärtnerei Stoll. Wohlwollend betrachtet, kann man es für einen originellen Wurf halten, ein Landmark-Bau, der die Skyline neu definieren wird, wie der Gemeinderat festhielt. Wer ein bisschen böse ist, fragt sich, ob der Architekt Jenga gespielt hat, als ihm die Idee kam. Ein Turm aus verschachtelten Wohneinheiten für ein Gebiet, in dem nichts verschachtelt ist, sondern in dem Zäune, Vorgärten und Zubringerstrassen alles säuberlich voneinander trennen.

Dennoch ist Münchenstein Vorreiter im Kanton Baselland, dem, glaubt man den Prognosen, ein Bauboom bevorsteht. Bis 20 000 neue Einwohner in den nächsten 25 Jahren alleine im Birstal – das hat eine Hochrechnung des Beratungsunternehmens Wüest & Partner ergeben. Hochhäuser könnten ganz schnell en vogue werden, wenn der Zustrom anschwillt. Genauso wie es Ende der 1960er-Jahren geschah, als die chemische Industrie Massen von Arbeitern anzog. In Gemeinden wie Pratteln, Reinach oder Birsfelden sind die Folgen davon heute noch sichtbar. Gigantische Wohnsilos am Rheinufer, die leblose Reinacher Betonsiedlung Mischeli oder das langjährige Problemviertel Längi in Pratteln.

Die Entwicklung verlief damals so rasant, dass alle Beschränkungen fallengelassen wurden. Nebst billigen Unterkünften zog der Kanton Schulen und Gymnasien hoch. Schnell zusammengezimmerte Zweckbauten, die heute oft Probleme machen.

«Der Kanton wurde damals von der Entwicklung überrollt», sagt Martin Kolb, Chefplaner im Baselbiet. Kolb sieht darin aber auch etwas Gutes: «Es war möglich, diese Infrastruktur schnell zu finanzieren. Heute dauert die Vorlaufphase für ein neues Gymnasium zwanzig Jahre.»

Kolb ist seit 2009 im Amt. Er soll dafür sorgen, dass das Baselbiet diesmal besser vorbereitet ist, dass es nicht nur auf aktuelle Ereignisse reagieren muss. «Was vor mir war, ist mir gleichgültig», sagt Kolb. In den letzten Jahren habe sich die Kantonsplanung stark in Grossprojekten wie Salina Raurica verloren. Dort soll es nach zehn Jahren Planungsphase in den nächsten zwei Monaten erstmals Konkretes geben.

Radikaler Umbau

Kolb hat eine Strategie erarbeiten lassen, die sich hinter dem harmlosen Namen «Verdichtungsstudie» versteckt, aber Gewaltiges beinhaltet. Die drei Hauptachsen des Kantons, das Birs-, das Ergolz- und das Leimental sollen radikal umgebaut werden. Rund um die Bahnhöfe sollen Hochhauscluster entstehen und damit neue Zentren geschaffen werden. Allenorts soll verdichtet, sollen Lücken in den Siedlungen geschlossen werden. Das Naturschutzgebiet Reinacherheide wird nach Kolbs Plänen zu einem Central Park, um den sich dichte Wohngebiete drängen. «In meinen Vorstellungen», sagt Kolb, «sieht das Baselbiet in zehn, fünfzehn Jahren so aus.»

In den betroffenen Gemeinden sieht man das anders. Urs Hintermann, Gemeindepräsident von Reinach, spricht von «Visionen» oder «Ideen, die nicht zwingend mit der Realität etwas zu tun haben müssen». Er glaubt nicht, dass Reinach noch viel mehr Einwohner aufnehmen kann. «Unsere Bemühungen gehen in eine andere Richtung.» Reinach wolle die Einwohnerzahl halten, nicht vergrössern. Bevor über neue Siedlungen diskutiert werde, müsse die Infrastruktur ausgebaut werden. Schon ein kleines Plus an Einwohnern im Birstal würde zu einem Verkehrskollaps führen.

Keine Extrawürste mehr

Doch Reinach wird sich mit den Verdichtungsplänen auseinandersetzen müssen. Die forcierte Kooperation läuft unter dem Titel Birstalstadt. Der Kanton will die Birstal-Gemeinden von Aesch bis Birsfelden dazu bringen, sich mit den Bevölkerungsprognosen ernsthaft auseinanderzusetzen. Denn noch entscheidet jedes Waldenburg und jedes Aesch für sich, wie es was wann bauen will.

Spätestens nächstes Jahr könnte aus Bern, wo die gesamtschweizerische Raumplanung überarbeitet wird, die Order kommen, dass der kantonale Richtplan geändert werden muss. Und zwar so, dass nicht mehr jede Gemeinde tun und lassen kann, was sie will. Dann werden Nachbarn zusammenspannen müssen. Extrawürste, wie sie Münchenstein gefahren hat, werden dann kaum mehr möglich sein.

Noch deutlicher vorgeprescht ist Pratteln, das im schäbig-schaurigen Industrieviertel hinter dem Bahnhof gleich drei neue Türme hinstellt. Pratteln hat diese Projekte vorangetrieben, als der Kanton noch nichts von einer Verdichtungsstrategie wusste. Es hat auf Druck der Investoren ein Hochhauskonzept erstellt, das nun als Vorlage für den Kantonsplaner Kolb dient.

Kolb versteht Pratteln als Labor. Er will beobachten, welche Dynamik die neuen Hochhäuser auslösen, ob sie als Zentren funktionieren, was in der Nacht dort geschieht. Hier soll sich zeigen, ob aus den Wohnräumen auch Lebensräume enstehen.

Die richtigen Lehren

Das ist auch für Matthias Drilling die entscheidende Frage. Der Professor für Sozialplanung und Stadtentwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz bezweifelt, dass das Baselbiet, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat: «Damit ein Hochhaus funktioniert, muss es in die Nachbarschaft eingepasst sein, es muss ein Teil davon sein und keine Insel.» Die unvermeidlichen Park­anlagen rund um die Türme könnten diesen Anschluss nicht herstellen.

Die Behörden müssten viel mehr von den Investoren verlangen, fordert Drilling. In die oberste Etage gehöre ein Café und kein Loft, ins Erdgeschoss eine Kinderkrippe oder eine Bibliothek, auf alle Fälle aber ein öffentlicher Ort, wo sozialer Austausch stattfinden kann. Eine Gemeinde sollte sich nicht nur zum Verkehr Gedanken machen, sondern auch, wie sie es schaffen kann, dass die Neubaugebiete nicht reine Schlafstätten sind und veröden. Um das zu erreichen, sei die Durchmischung der Bewohner elementar. Die Wohnungen sollten ein Mix aus Eigentums-, Miet- und Genossenschaftswohnungen sein, schlägt Drilling vor.

In Pratteln, wo durch die drei privaten Bauprojekte 1000 neue Einwohner dazukommen sollen, hat man sich dazu wenig Gedanken gemacht. Gemeindepräsident Beat Stingelin rechnet mit kinderlosen Paaren als Hauptmietern. Die bringen der Gemeinde satte Steuer­einnahmen und brauchen keine Kindergärten und Schulen. Dass sie für Quartierleben sorgen, kann man sich kaum vorstellen.

Vorbild Zürcher Glattal

Vielleicht wird Pratteln auch Einzelfall bleiben. Oder noch schlimmer: zum Irrtum werden. Reinachs Gemeindepräsident jedenfalls glaubt nicht so recht an die Prognosen: «Es hiess schon einmal, dass Reinach auf 40 000 Einwohner wachsen würde.» Daraufhin wurde wie wild gebaut, etwa der Siedlungswulst Mischeli. Heute wohnen gerademal 18 000 Menschen in Reinach.

Auch Kantonsplaner Kolb räumt ein, dass die Massenmigration ausbleiben könnte, etwa wenn sich die Wirtschaftslage verschlechtert. Doch wer genau hinschaut, erkennt, dass die Verdichtungsstrategie mehr ist als eine Antwort auf die Migration. Es ist ein Plan, die stagnierende Wirtschaft im Kanton anzukurbeln.
Kolb verweist auf das Glattal. Die Zürcher Vororte auf der Achse vom Zentrum bis zum Flughafen haben schon vor über fünfzig Jahren den zermürbenden Föderalismus überwunden. Sie sind gemeinsam beim Kanton vorstellig geworden, so dass schliesslich die Glattalbahn gebaut wurde. Die 650 Millionen Franken Investitionskosten führten bislang zu 9 Milliarden privat investierten Franken. Laut der Glattaler Standortförderung enstehen jedes Jahr 2000 neue Arbeitsplätze.

Kolb wünscht sich diese Dynamik im Baselbiet. Eine Tramverlängerung von Pratteln nach Augst oder ein Schnelltram im Birstal könnten ähnliche Prozesse auslösen, glaubt er. Doch dafür brauche es einen Mentalitätswandel: «In Zürich herrscht ein ganz anderes Selbstverständnis. Da trauen sich die Kommunen etwas zu.»

Mit einem Teil der Kommunen hat sich Kolb noch gar nicht auseinandergesetzt: mit jenen im Oberbaselbiet. Sie spielen in den Entwicklungsplänen keine Rolle. Eine Strategie fürs Hinterland soll aber folgen. Die politische Debatte im Kanton dürfte dann deutlich lauter werden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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