Das Berner Dorf Zimmerwald versöhnt sich mit seiner Sozialisten-Geschichte

Nach genau 100 Jahren hat sich das Bauerndorf Zimmerwald bei Bern am Samstag mit seiner Geschichte versöhnt. An einer Veranstaltung in der Dorfkirche gedachten über 200 Menschen der Konferenz von 1915, von der das Dorf lange Zeit nichts wissen wollte.

Erinnerten an einem Gedenkanlass an die Zimmerwald-Konferenz vor 100 Jahren: der deutsche Linken-Politiker Gregor Gysi (Mitte) und der ehemalige Bürgermeister von Montreuil (F), Jean-Pierre Brard (rechts). Links im Bild Moderator Andreas Schefer. (Bild: sda)

Nach genau 100 Jahren hat sich das Bauerndorf Zimmerwald bei Bern am Samstag mit seiner Geschichte versöhnt. An einer Veranstaltung in der Dorfkirche gedachten über 200 Menschen der Konferenz von 1915, von der das Dorf lange Zeit nichts wissen wollte.

Drei Dutzend Sozialisten aus ganz Europa hatten sich seinerzeit heimlich auf dem Längenberg südlich von Bern getroffen. Offiziell gaben sie sich als Teilnehmer eines Ornithologen-Kongresses aus. In Tat und Wahrheit führten sie erregte Debatten darüber, wie die Arbeiterbewegung den Ersten Weltkrieg beenden könnte.

Das Treffen vom 5. bis 8. September 1915 sei eine Friedenskonferenz gewesen, betonte der Waldner Gemeindepräsident Fritz Brönnimann an der Gedenkveranstaltung. Die Gruppe von Revolutionären um Lenin, die «Krieg gegen den Krieg» führen wollten, sei in der Minderheit gewesen.

Der Russe Lenin habe sich in Zimmerwald nicht gegen die besonneren Kräfte um den Schweizer Arbeiterführer Robert Grimm durchsetzen können, sagte auch Monika Wicki, Präsidentin der Robert-Grimm-Gesellschaft. Doch Lenin habe in den Folgejahren die Geschichtsschreibung für sich gewonnen.

Rütli der UdSSR

Das habe dazu geführt, dass die Sowjetunion ihren Gründungsmythos jahrzehntelang mit Zimmerwald verbunden habe. Historiker bezeichneten den Ort mitunter als «Rütli der UdSSR», viel Fan-Post aus dem Osten traf in Zimmerwald ein.

Von all dem wollte das Bauerndorf nichts wissen. Im Kalten Krieg wehrte man sich gegen alle Vereinnahmungsversuche, untersagte Gedenktafeln und riss 1971 das Haus ab, in dem Lenin genächtigt haben soll. Erst zum 100. Jahrestag der Konferenz scheint das Dorf, das nun zur Gemeinde Wald BE gehört, die Dinge gelassener zu sehen.

«Sie können stolz sein»

Das liegt auch an der modernen Geschichtsschreibung, welche die Rolle Lenins an der Konferenz relativiert. «Sie können stolz sein auf Ihre Gemeinde, die mitten im Ersten Weltkrieg die bedeutende sozialistische Friedenskonferenz beherbergte», versicherte Monika Wicki am Samstag den Einwohnern.

In Zimmerwald sei Weltgeschichte für den Frieden geschrieben worden, nicht Weltgeschichte für die Revolution, betonte sie. Heute sei auch unbestritten, dass die Konferenz massgeblich durch Robert Grimm geprägt worden sei und nicht durch Lenin.

Keine Promi-Treffen

Der Anlass zog nur wenig linke Polit-Prominenz an, obschon SP-Chef Christian Levrat und der deutsche Linken-Politiker Gregor Gysi gleichentags an einer Gedenktagung in Bern aufgetreten waren. Die Dorfkirche von Zimmerwald gehörte den Einheimischen, Historikern und anderen Interessierten, der Anlass war besinnlich und bescheiden.

Die Konferenz-Teilnehmer von 1915 hätten für viele soziale Errungenschaften gekämpft, die heute selbstverständlich seien, sagte die Berner Regierungsrätin Barbara Egger (SP). Doch nicht alle Forderungen des Manifests von Zimmerwald seien erfüllt. Von globalem Frieden, Gerechtigkeit und Chancengleichheit sei die Welt nach wie vor meilenweit entfernt.

Etwa eine Stunde dauerte die Gedenkveranstaltung, die von Orgelmusik umrahmt wurde. Dass ein schwedischer Kommunist in der Kirche halb-spontan ein Gedicht des Konferenz-Teilnehmers Ture Nerman vortragen durfte, passte irgendwie zum Charakter des Anlasses.

Der Gemeindepräsident lud anschliessend zum Apéro vis-à-vis im Kirchgemeindehaus. Und er wies darauf hin, dass es am frühen Abend noch eine Führung an die historischen Stätten in seinem Dorf geben werde.

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