Das Burgund winkt, 19. Juni 2002

Dem Besuch sei Dank: Noch ein Ruhetag. Wir ziehen ostwärts, diesmal nicht zu Fuss, sehen uns in schmucken und hübschen Dörfern um und landen nochmals in einem Château.

Sancerre taucht auf, fruchtbare Böden für einen erlesenen Wein. (Bild: Urs Buess)

Dem Besuch sei Dank: Noch ein Ruhetag. Wir ziehen ostwärts, diesmal nicht zu Fuss, sehen uns in schmucken und hübschen Dörfern um und landen nochmals in einem Château.

Die jungen Wirtsleute in Vignoux führen ihr Gasthaus mit grosser Liebe, Sorgfalt im Detail, erlesener Speisekarte. Ihre Freundlichkeit ist eher zurückhaltend. Ich hab die paar ruhigeren Tage genossen, etwas Erholung, nachdem ich seit Ankunft in Frankreich doch täglich recht grosse Strecken mit voller Packung zurückgelegt habe.

Wir fahren los, nicht zu früh, ostwärts, auf kleinen Strässchen, ich freu mich, die Umwege, die ich zu Fuss von St-Malo südwärts und von Chinon nordwärts gemacht habe, nun sozusagen in einem Rutsch zu kompensieren und die verpasste Wegstrecke aufzuholen. Was man sich doch alles ausdenkt, um eine kleine Autofahrt zurechtfertigen.

Tonziegel statt Schiefertafeln

Sylvia fährt in gemächlichem Tempo und trotzdem: So schnell saust alles vorbei. Wir sind im Grenzgebiet zwischen Centre und Burgund – die Tonziegel lösen die Schiefertafeln als Dachbedeckung ab. Weite Getreidefelder verdrängen das Vieh, die Kalksandsteinhäuser verschwinden. Die Gebäude sind noch immer ein- und zweistöckig, die Stallungen gross und flach, dazwischen Getreidespeicher in der Landschaft. Die Fenster und Türen mit mächtigen Steinquadern eingefasst, sonst die Wände aber grau verputzt.

Stärker als im Westen, in der Bretagne und im westlichen Loire-Tal, drängt es die Leute auf die Plätze, in die Bars. Frauen und Männer verlassen ihre vier Wände eher, der öffentliche Raum ist auch der ihre, sie schwatzen, scherzen, schimpfen öffentlicher, draussen, auf der Strasse, dem Trottoir, im Laden.

Figuren und Physiognomien

In Henrichemont ist Wochenmarkt – das übliche natürlich: günstige Kleider, Schuhe, Gürtel, Fisch, Blumen, Käse, Musikkasetten, Haushaltgeräte von der Pfanne bis zum Apfelstecher, Fleisch und Eier, Unterwäsche, Nähzeugs, Setzlinge und Käse wieder, nur ganz wenig Auswahl hier, etwas Ziege, Schaf und Emmentaler. Die Weite hier und die Witterung haben Physiognomien geprägt, dass man sie zeichnen können möchte, dass man gern versteckt fotografieren täte. So viel Figuren hängen rum, sehr dünne und sehr dicke, bucklige und grosse, kahle Köpfe und solche mit fettig langen Haaren, dicke Nasen und gequollene, grossporige Wangen und eingefallene, stechende und auch listige Augen – eine kuriose Ansammlung von Leuten auf dem Markt von Henrichemont, das man sich ihn als Kulisse für einen französischen Film vorstellen kann.

Es ist nicht erfunden, auch wenn es wie ein Cliché wirkt: Der Musikhändler berieselt den Platz ununterbrochen mit Musette-Kassetten. Der Dorfpolizist nimmt die Stände ab, im steifen, blauen Hut mit gekreuzten Goldstreifen auf dem steifen Hut wie Louis de Funès in seinen Filmen. Bei der Unterwäsche schäkert der Gendarm etwas länger. Der Fischhändler, der auch Poulets grilliert, schwitzt, ist dick und wischt sich manchmal Tropfen vom Schnurrbart. Der Käse-Kleinhändler mit Schaf-, Ziegenkäse und Emmentaler mag nicht mehr, die Kundschaft bleibt aus, und er packt zusammen. Ein Stück Käse schenkt er der Nachbarin, die Setzlinge anbietet.

Der Wirt vom Uzé hat viel Kundschaft, eilt umtriebig hin und her, stellt seine Tochter vor und seine Frau, ein rothaariges Temperamentsbündel, das die Theke schmeisst, Männer lungern an den Tischen herum, auch draussen auf Plastikstühlen hinter den Marktständen. Seit zwei Monaten sei er hier, sagt der Wirt, und es gefalle ihm gut. Sagt das so schnell und laut, dass einem fast dünkt, er müsse sich Mut zusprechen, müsse sich selbst überzeugen. Etwas überdreht, der junge Mann, der mit kühler Weinflasche umhereilt, Gläser füllt, die Übersicht längst nicht mehr hat. Er lacht uns aus, da wir Sancerre bestellen. Machen doch alle, sagt er. Trinkt Momenetou – schmeckt besser. Stimmt.

Wallis oder Basel – spielt keine Rolle

Er war auch schon in der Schweiz. In Basel. Hat dort Fendant ernten helfen. Ob es nicht das Wallis gewesen sein könnte? Doch natürlich, im Wallis war es. Nur vier Tage habe er es ausgehalten, diese Lasten durch steile Weinberge zu buckeln. Dann sei er abgehauen. In Basel, erinnert es sich, wohne der Mann einer Kusine. Adlig, ein kleiner Fürst, arbeite mit Computern, dick aber lieb.

Die Landschaft wird welliger, wird schnell hüglig – und die baumlosen Hügel wirken nach nur einer regenlosen Woche schon gelblich und trocken. Weinberge prägem das Bild: in den Talböden die Äcker, an den Hügelflanken Reben. Steinige, steinige Böden, wo der Wein wächst, die Rebstöcke zwängen sich durch den Schotter. Wir nähern uns Sancerre, das wie ein süditalienisches Kleinstädtchen auf einem markanten Hügel sitzt.

Die Dörfer Loire-aufwärts werden schmuckloser. Oder wenn sie Schmuck haben, dann ist er verblasst. Es muss, so scheint es, hier vor Jahrhunderten eine blühende Region gewesen sein. Mächtige Kirchen und Stadtteile zeugen davon – doch heute ist das alles am Zerfallen und nirgends Anzeichen, dass sich irgend jemand daran machen würde, diesen Zerfall aufzuhalten.

Château-sur-Loire, Nevers… der Rutsch ostwärts wird hier enden. Hier, wo das Burgund beginnt, möchte ich die Fussreise wieder aufnehmen. Wir suchen eine Unterkunft für diese Nacht. Ein unauffälliges Schildchen in Guérigny: Nochmals ein Bett in einem Château? Kenn ich diese kühle, versnobte Atmosphäre nicht aus Breuil? Ich steuere hin, erst durch ein unattraktives Dorf, das in der Sommerhitze liegt, an leerstehenden Fabrikarealen entlang, über eine dahinrostende Eisenbahnlinie, über einen Feldweg – vor ein Holztor. Château de Villemenant.

Schlosshund mit hellen Augen

Hunde bellen, minutenlang, Schlosshunde mit hellen Augen. Sylvia will weiter. Es schaut eine junge Frau aus einem Fenster, ein vierjähriger Bub ebenfalls und in einer Dachlukarne sehen wir einen Mann arbeiten. Die  Frau bemüht sich heraus. Und sie führt uns in das Schlösschen, zeigt uns ein Riesenzimmer – und ich sage zu. Auf dem Weg zurück zum Auto schlägt Sylvia vor, einzusteigen und schnell wegzufahren. Irgendwas macht ihr Angst.

Und wir bleiben doch, gewöhnen uns langsam und sachte daran, dass wir in einem Schlösschen wohnen, das ein junges Ehepaar sehr geschmackvoll einrichtet, auch die Gästezimmer mit sehr persönlichen Dingen ausstattet, der Salon ist sowohl ihre Bibliothek wie Aufenthaltsraum für Gäste. Wir schauen uns um, richten uns ein, sehen uns im gepflegten, aber nicht gehätschelten Park um, beobachten, wie die Seerosen sich im Kanal ausbreiten, essen zwischendurch im Dorf und sitzen dann auf der Terrasse, schauen einem weidenden Pferd zu, überzeugen uns gegenseitig, dass wahrscheinlich die Geister der hier Verstorbenen nach wie vor um die Gemäuer schwirren, sehen den Mond manchmal blinken, vor allem aber Gewitterwolken aufziehen, weit hinten wetterleuchtet es, die Vögel verstummen langsam, es wird dunkel und das Gewitter bricht los.

(Guérigny, 19. Juni 2002)

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