Der Besitzer der ältesten Bäckerei Jerusalems erklärt, weshalb Menschen wie die Finger einer Hand sind.
Nach langem Spazieren in der Altstadt und bei 40 Grad verlangte meine bleiche Schweizerhaut nach etwas Schatten und Kühle. So suchte ich die türkische Bäckerei auf. Oder besser gesagt: Ich suchte die türkische Bäckerei. Denn diese liegt versteckt in einem der unzähligen, gleich aussehenden Gässchen der Altstadt von Jerusalem. Tatsächlich war ich erfolgreich und fand neben Schatten und Kühle auch Stille und eine Zitronenlimonade.
Ich erinnerte mich, dass ich mich schon vor einem Jahr mit Amir – dem einen Inhaber der Bäckerei – unterhalten und er mir erzählt hatte, dass er vor langer Zeit auch einmal in der Schweiz gewesen war. So fühlte er sich dann auch geschmeichelt, als ich ihn um Erlaubnis bat, ein Foto von ihm zu machen und einige Fragen stellen zu dürfen. Diese waren überflüssig, denn er begann stolz von sich zu erzählen.
«Mein Vater hat hier gearbeitet, mein Grossvater, mein Urgrossvater. Hier ist mein Platz.»
Amir und sein Bruder sind die Erben der sogenannten türkischen Bäckerei, welche seit 300 Jahren von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Heutzutage erwartet die Gäste ein Ort der erstaunlichen Stille und Ruhe inmitten des Gewusels der Touristen und Händler; zu diesem Gefühl mag beitragen, dass man auf dem 800 Jahre alten Ofen sitzt, weich gebettet auf Sofas und grossen Kissen.
Hergestellt werden süsse Gebäcke, bevorzugt mit Sesam und Honig, aber auch Salziges ist hier erhältlich. Nach diesem Vortrag frage ich Amir, ob er sich vorstellen könnte, für immer in der Bäckerei zu arbeiten, oder ob es in seinem Leben Träume und Wünsche gibt, die er sich noch erfüllen möchte.
Seine Antwort darauf: ausgiebiges Lachen. Doch dann wird er ernst.
«Nein, hier in der Bäckerei ist mein Platz – mein Vater hat hier gearbeitet, mein Grossvater, mein Urgrossvater. Nun arbeiten mein Bruder und ich eben hier. Aber einen Wunsch habe ich: Frieden.» Und daraufhin erklärt er seine erstaunliche Theorie.
Es braucht alle
«Die Menschen sind wie die fünf Finger einer Hand. Sie sind alle auf gewisse Art und Weise gleich, aber doch verschieden. Manche Menschen sind gut, manche Menschen sind schlecht. Vor allem aber bilden sie zusammen ein Ganzes – so, wie nur alle fünf Finger eine vollständige Hand bilden. Es braucht alle, aber es muss ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander sein. Wenn die Menschen hier in Jerusalem das verstehen würden, könnte es auf der ganzen Welt viel mehr Frieden geben – denn Jerusalem ist das Zentrum vieler verschiedener Aspekte, von Religion, Geschichte und Identität.»
Dem war nichts hinzuzufügen. Und so verliess ich mit diesen Gedanken und einer Tüte süsser Sachen, die ich von Amir als Geschenk erhalten hatte, die Bäckerei und liess mich wieder vom Altstadtgewirr verschlucken.