Lucien Favre startet mit dem OGC Nice gegen Rennes zur Ligue-1-Saison. Der Schweizer Coach rechnet nach erheblichen personellen Rochaden mit einer schwierigen Kampagne.
Er vertieft sich mal wieder in die Arbeit, sichtet in seinem Büro stundenlang Videosequenzen, entwirft taktische Muster. «Ich habe nur wenig Zeit. Es gibt viel zu tun, sehr viel sogar», meldet Favre aus dem heissen Süden Frankreichs.
Elf Monate nach seinem Rückzug aus Mönchengladbach ist der Schweizer Trainerkünstler im alten Element. Als Nachfolger von Claude Puel muss er Experimente eingehen. Der Mercato ist nicht vorbei, der Klub steckt mitten in Verhandlungen mit neuem Personal. Die Saison beginnt für «Gym» am Sonntag gegen Rennes womöglich zum einem ungünstigen Zeitpunkt.
Vier Stammspieler haben die Nummer 4 der letzten Saison verlassen, unter ihnen Hatem Ben Arfa und Valère Germain; in Paris und Monaco verdienen die beiden Topskorer mehr. Nampalys Mendy wechselte für 14 Millionen Franken zum englischen Champion Leicester. Favre kennt das Geschäft und die wirtschaftliche Reichweite der Konkurrenz: «Das ist die Realität.» Er muss neue Lösungen suchen.
In einem Interview mit dem Pariser Wochenmagazin «Le Point» betonte er, primär pragmatisch und nicht dogmatisch handeln zu wollen. Er werde zunächst keine grossflächigen Umstellungen anordnen. Zudem könne niemand zaubern: «Ich kenne keinen Trainer, der Harry Potter ist.»
Lokale Beobachter wundern sich über den erheblichen Substanzverlust beim Europa-League-Teilnehmer, zumal neue Geldgeber eingestiegen sind. Mitte Juni haben die chinesischen Investoren Alex Zheng und Chien Lee zusammen mit zwei US-Partnern 80 Prozent des Aktienkapitals erworben. «Sie sichern die Zukunft des Vereins», erklärte Klubchef Jean-Pierre Rivère, der seit 2011 die Verantwortung trägt.
In den letzten Wochen hat der OGC überraschend nur zaghaft investiert, die neuen Besitzer verhalten sich bis anhin überraschend defensiv. Rivère kündigte zwar an, «drei bis vier Erfahrene engagieren zu wollen», passiert ist (noch) nichts. Offenbar hat die Finanzkraft der Hauptaktionäre die Gespräche mit potenziellen Kandidaten nicht vereinfacht.
Ein Déjà-vu?
Favre beteiligt sich an der Debatte um die Klubpolitik selbstredend nicht. Seine Wünsche hat er intern deponiert, mehr gebe es dazu nicht zu sagen. Nur so viel: «Wir haben das Rückgrat verloren.» Während seiner Ära in Mönchengladbach notierten die deutschen Journalisten ähnliche Einschätzungen.
Ein Déjà-vu à la Favre? «Ich übertreibe nicht.» Deshalb warnt der Romand auch in eigener Sache vor überrissenen Erwartungen. Nach den situationsbedingten Umbauarbeiten schwebt ihm eher eine möglichst rasche Stabilisierung vor, weil er angesichts der aufgerüsteten Konkurrenz ansonsten mit einer ungemütlichen herbstlichen Brise zu rechnen sei.
Nach knapp sechs Wochen und fünf Testspielen ohne Sieg zieht er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda primär ein Fazit: «Ich gehe von einer gewaltigen Herausforderung aus.» Unwohl ist ihm dabei nicht. Nach seinem Timeout aus freien Stücken wird Favre mit vollen Energietanks operieren.
Die Rolle ist auf ihn zugeschnitten. In Nice steht ihm im Prinzip eine mit wenigen älteren Professionals ergänzte U23-Auswahl zur Verfügung. Namenlose, Rückkehrer, Talente aus der zweiten Liga. «Jünger als wir ist nach dem Ausfall von Maxime Le Marchand keine Mannschaft in der Ligue 1.» Der passionierte Ausbildner und Stratege kann wie einst bei der Borussia umsetzen, was nur wenige seiner Branche beherrschen: Begabte und Durchschnittliche besser machen.
Charakterkopf Puel sprang womöglich im besten Nizza-Moment der letzten Dekade ab. Mit Favre haben sie beim Olympique Gymnaste Club einen verpflichtet, der zwar nicht alles umstellen wird, aber spielerische Verbesserungen anstrebt, der guten Fussball inszeniert, der für den Fortschritt steht: Das werden seine Ex-Chefs in Yverdon, in Genf, in Zürich, in Berlin oder in Mönchengladbach bestätigen.
Die Blutspur mitten in Nizza
«Ich brauche noch etwas Zeit.» Die Macher von Nice vertrauen ihm. Das Publikum freut sich auf seine Aufführungen in der 245 Millionen Euro teuren Riviera-Arena. Favre soll den Nicois Unterhaltung schenken. Unterhaltung tut gut, ein bisschen Ablenkung ebenso. An der Côte d’Azur ist im letzten Monat viel passiert.
Am 14. Juli löschte ein Massenmörder in seinem politisch und religiös bedingten Wahn in Nizza 85 Menschenleben aus. Die Blutspur auf der Promenade des Anglais werden die Einheimischen nie mehr vergessen. «Niemand kann das. Jeder denkt immer wieder an diese schreckliche Tat», sagt Favre.
Sie hätten nach dem Attentat versucht, normal weiterzuarbeiten. «Aber aus dem Kopf ist dieser Albtraum nicht mehr zu bringen.» Favre, Zeitgenosse mit feinem Sensorium, liest viel über den Konflikt, sprechen mag er über den Terror in der Öffentlichkeit nicht.Favre hat sich den Start im Land des EM-Finalisten wohl weniger kompliziert vorgestellt. Und doch ist er sicher: «Ich werde auch hier wichtige Erfahrungen sammeln und täglich Neues lernen.»