Nach der Europawahl hat in Brüssel das Tauziehen um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten begonnen: Wegen des knappen Wahlsieges der konservativen EVP dürfte die Besetzung dieser und weiterer Top-Personalien schwierig werden und Wochen dauern.
Gemäss vorläufigen Ergebnissen vom Montagnachmittag kommt die konservative Europäische Volkspartei (EVP) auf 213 von insgesamt 751 Mandaten und ist damit stärkste Kraft im EU-Parlament, auch wenn sie gegenüber den letzten Wahlen 60 Sitze verloren hat.
Die Sozialdemokraten vereinen ihrerseits 190 Sitze auf sich (minus sechs). Drittstärkste Kraft bleiben die Liberalen mit 64 Abgeordneten (minus 19), gefolgt von den Grünen mit 53 Mandaten (minus vier). Rechtsorientierte und populistische Parteien legten insgesamt von 64 auf rund 142 Mandate zu.
In Frankreich löste der Wahlsieg des rechtsextremen Front National (FN) ein politisches Erdbeben aus. Die Partei von Marine Le Pen wurde mit knapp 25 Prozent der Stimmen erstmals stärkste politische Kraft vor der konservativen Oppositionspartei UMP.
Die Sozialisten von Staatspräsident François Hollande stürzten auf weniger als 14 Prozent ab. Angesichts der Resultate verlangte Le Pen noch am Sonntagabend die Auflösung der Nationalversammlung und den Rücktritt von Premierminister Manuel Valls.
Vor einer Krisensitzung im Elyséepalast forderte Valls, Europa müsse neu ausgerichtet werden, um Wachstum und Beschäftigung stärker zu fördern. Ausserdem versprach er den Franzosen im Sender RTL weitere Steuererleichterungen.
Cameron schiebt Schuld auf Brüssel
Von Grossbritannien aus rief UKIP-Chef Nigel Farage derweil nach seinem «Jahrhundertsieg» ein Ende der europäischen Integration aus. Die europafeindliche Partei kam auf fast 28 Prozent der Stimmen. Die Tories von Premier David Cameron landeten hinter der Labour Party auf Platz drei.
«Die Menschen sind von der EU tief enttäuscht», schob der konservative Regierungschef im BBC-Radio den Schwarzen Peter nach Brüssel. «Die Menschen wollen Veränderungen.» Cameron hat den Briten für 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU zugesagt.
Auch in Skandinavien schnitten die Rechtspopulisten besser ab als erwartet. In Griechenland triumphierte die Brüssel-feindliche linke Protestpartei Syriza mit mehr als 26 Prozent. Deren Chef Alexis Tsipras forderte nach dem Sieg vorgezogene Parlamentswahlen.
Der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zeigte sich besorgt über den Erfolg eurokritischer Parteien. «Wenn man daraus einen Trend machen will, dann diesen: Die Menschen auf der Strasse haben den Eindruck, dass sie nicht mehr kontrollieren können, was passiert», sagte er bei einer Konferenz der Europäischen Zentralbank in Portugal.
In Italien, wo die Wahlbüros europaweit am Sonntag als letzte schlossen, bestand die Demokratische Partei (PD) von Regierungschef Matteo Renzi ihre erste Bewährungsprobe: Nach Auszählung fast aller Stimmen stand sie bei 40,81 Prozent.
Dahinter folgte die populistische Fünf-Sterne-Bewegung mit rund 21,16 Prozent. Die konservative Opposition Forza Italia von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi landete mit 16,8 Prozent auf Platz drei.
EU-weit blieb die Beteiligung mit etwa 43,1 Prozent konstant niedrig. Rund 400 Millionen EU-Bürger waren zur Wahl aufgerufen.
Merkel rechnet mit langen Verhandlungen
Streit zeichnet sich nun um die Führung der EU-Kommission ab: Der Konservative Jean-Claude Juncker und sein sozialdemokratischer Konkurrent Martin Schulz bekräftigten am Montag ihre jeweiligen Ambitionen.
Mit Blick auf das vorläufige Ergebnis sagte Juncker: «Die EVP hat einen zweistelligen Vorsprung und das gibt mir als Spitzenkandidat der Recht, als erster eine Mehrheit im Parlament und im Rat zu suchen.»
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte, sie rechne mit wochenlangen Verhandlungen über die Besetzung aller Führungsämter. Sie machte sich für ein «europäisches Personalpaket» stark.
Der künftige Kommissionspräsident wird von den 28 EU-Staats- und Regierungschefs nominiert, braucht aber im EU-Parlament eine absolute Mehrheit. Die EU-Chefs treffen sich am Dienstag in Brüssel, um über den Ausgang der Wahl zu beraten.