Vor vierzig Jahren kam das erste Betty-Bossi-Kochbuch auf den Markt. Heute gibt es kaum eine Schweizer Küche, in der keines dieser Bücher steht. Trotz ihrer Biederkeit oder gerade deswegen.
Betty Bossi trägt viele Namen: Köchin der Nation, Mutter Helvetia der Küche, Miss Schweiz der Pfannen und Löffel. Betty Bossi ist darüber hinaus längst auch zum Synonym für einfache Lösungen in vielen Lebensbereichen geworden. Politiker, Wirtschaftsführer, Stammtischredner und Medienschaffende bedienen sich immer wieder gerne eines Betty-Bossi-Rezepts – weil jede und jeder versteht, was gemeint ist: eine Schritt für Schritt vorgegebene Anleitung inklusive exakter Dosierung und garantierten Gelingens.
Über 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung kennen laut Umfragen Betty Bossi, und so steht dieser Name auch für die hierzulande wohl erfolgreichste Marketingkampagne überhaupt. Denn es gibt keine Frau namens Betty Bossi, hat es nie gegeben. Sie ist die Erfindung einer Zürcher Werbeagentur – nachgesagt wird sie einer Angestellten dieser Agentur –, die in den 1950er-Jahren für den Speisefetthersteller Astra (Unilever Schweiz) eine neue Werbekampagne lancieren sollte.
Vorbild der perfekten Hausfrau
Wie in dieser Wirtschaftswunder-Ära üblich, kam das Vorbild aus Amerika: «Betty Crocker», Fantasiefigur im Dienste des Nahrungsmittelkonzerns General Mills, nach deren Ernährungs- und Kochtipps sich ganze Heerscharen von US-Hausfrauen richteten. Und dasselbe Glück sollte nun auch den Schweizer Frauen zuteil werden.
Am 1. April 1956 erschien die erste «Betty Bossi Post» auf Deutsch und Französisch, eine beidseitig bedruckte Zeitungsseite, die neben der Werbung für Astra-Produkte Koch- und Haushaltstipps enthielt und gratis in Lebensmittelläden auflag. Bald wurde die Zeitung umfangreicher, deckte immer mehr das ganze Lebensspektrum der perfekten Hausfrau ab. Mit einem Briefkasten für Fragen und Antworten zu Küche und Haushalt, Strickanleitungen, Mundartgeschichten und Kreuzworträtseln.
Der Siegeszug von Betty Bossi war nicht mehr aufzuhalten, die imaginäre Frau wurde für immer mehr Schweizerinnen zu einer real existierenden Identifikationsfigur. Was den Erschaffern und Vermarktern wahrscheinlich nur recht war, denn diese Illusion war schliesslich das Rezept für den Erfolg. So ist bis heute das Editorial der Zeitung, die es seit 1966 im Abo gibt, handschriftlich mit «Betty Bossi» signiert. Der Schriftzug soll von der inzwischen verstorbenen Texterin der Zürcher Werbeagentur stammen, die Betty Bossi ins Leben gerufen hat.
In vierzig Jahren verkaufte Betty Bossi 32 Millionen Kochbücher.
Vor vierzig Jahren, 1973, kam das erste grosse Betty-Bossi-Kochbuch mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren auf den Markt – ein Backbuch. Als Beginn einer 40-jährigen Erfolgsgeschichte bezeichnet die Betty Bossi AG diese Lancierung. Tatsächlich sind seither insgesamt knapp 100 Kochbücher erschienen – in Deutsch und Französisch – darunter einige Verkaufsschlager wie «Alltagsrezepte mit Pfiff» oder «Kochen für Gäste».
Das erfolgreichste, «Kuchen, Cakes und Torten», ist gemäss Esther Bieler von der Unternehmenskommunikation rund 1,4 Millionen Mal verkauft worden. Sämtliche Bücher seien nachgedruckt worden, einige schon zum 17. Mal. «Würde man alle verkauften Betty-Bossi-Kochbücher aneinanderreihen», schreibt das Unternehmen zum Jubiläum, «könnte man darauf von Zürich nach New York gehen.» In Zahlen ausgedrückt heisst das: 32 Millionen Bücher.
Mit Betty die Liebste bezirzt
Die Vermutung liegt somit nahe, dass in den meisten Schweizer Küchen mindestens ein Buch von Betty Bossi irgendwo in einem Regal oder in einer Schublade zu finden ist. Oft sogar bei jenen Kritikern, die über die Köchin der Nation schnöden, sie als «Betty Bünzlig» bezeichnen und ihre Rezepte, bei denen auch mal das bei Gourmets verpönte Aromat zum Einsatz kommt, als «unkreativ» und «uninspiriert» abtun.
Unbestritten ist aber, dass unzählige Frauen und Männer in der Schweiz nicht zuletzt mit Betty Bossis Hilfe die Freude am Kochen entdeckt, sich dank ihr überhaupt an den Kochtopf gewagt haben. Wie jener Arbeitskollege, der wusste, dass er seiner Angebeteten mit einem feinen Nachtessen mehr imponieren konnte als mit einem protzigen Strassenschlitten. Im Freundeskreis riet man ihm zu einem Betty-Bossi-Rezept; damit könne garantiert nichts schiefgehen. Nach einem Probekochen bei Kolleginnen – weil er hundertprozentig sicher sein wollte – bezirzte er seine Liebste mit einem Auberginen-Gratin à la Betty Bossi. «Sauaufwendig» sei die Sache gewesen, sagt er. Aber der Aufwand lohnte sich: Die beiden sind seit nunmehr 16 Jahren ein Paar und Eltern von drei Kindern.
«Keine Wegbereiterin mehr»
Auch Patrick Zbinden, Kulinarik-Experte, Food-Journalist und Besitzer von über 2000 Kochbüchern, spricht Betty Bossi durchaus das Verdienst zu, «ganze Generationen kochen gelehrt zu haben». Ebenso beweise sie eine nach wie vor grosse Innovationskraft bei der Entwicklung von Küchengeräten. «Zwar oft aus Plastik, aber wirklich ausgeklügelte Dinge.»
Leider, sagt Zbinden, flössen innovative Überlegungen nur noch selten in die Entwicklung von Rezepten ein. Heute sei Betty Bossi diesbezüglich keine Wegbereiterin mehr; sie habe den Anschluss an den Zeitgeist – kurze Zubereitungszeiten, maximal vier bis fünf Zutaten, optisch und geschmacklich ein Erlebnis – verpasst. «Betty Bossi setzt bei den Rezepten im Gegensatz zu früher keine Trendpunkte mehr, die meisten Aromakombinationen und Kreationen wirken irgendwie gesucht.»
Früher, sagt Zbinden, da habe es diese Aha-Erlebnisse bei einem Betty-Bossi-Gericht gegeben, einen klaren Wiedererkennungseffekt. Der sei weg. Letztlich müsse man sich fragen, warum man solche Bücher noch kaufen soll, «das gibt es inzwischen doch alles tausendfach im Internet».
Auch Betty Bossi ist im Netz
Rezepte seien heute online überall und jederzeit abrufbar, räumt Esther Bieler von der Betty Bossi AG ein, der digitale Markt konkurrenziere schliesslich den Printmarkt in allen Bereichen. Aber die Entwicklung verschlafen zu haben, lässt sie nicht gelten, und sie kontert mit Zahlen: «Die Betty-Bossi-Website hat über 500 000 Besucher pro Monat, der Newsletter mit vielen saisonalen Rezepten wird von 450 000 Abonnenten rege genutzt, und auf Facebook tauschen sich rund 40 000 Betty Bossi-Fans aus.»
Ausserdem, so Esther Bieler, habe Betty Bossi sowohl mit der Lancierung der neuen «Easy Day»-Kochbücher als auch mit den Alltagsrezepten «schnell und einfach» in der Zeitung die Trends der Zeit durchaus erkannt und aufgenommen. «Auch wenn die Verkaufszahlen nicht mehr ganz so hoch sind wie früher, die Betty-Bossi-Bücher mit der Gelingsicherheit der Rezepte sind immer noch die bestverkauften Kochbücher in der Schweiz.»
Zum 40-Jährigen hat sich die Köchin der Nation auf ihren Start mit den Büchern besonnen und vielleicht auch darauf, dass eines ihrer Backbücher das erfolgreichste von allen war: Mit «Kuchenduft liegt in der Luft» will sie erneut so richtig die Schweizer Küchen verführen.
Ins Leben gerufen wird Betty Bossi 1956 als Werbe-Ikone für den zum Unilever-Konzern gehörenden Speisefetthersteller Astra. Die Figur entwickelt sich mit ihren Tipps und Rezepten in der gleichnamigen Zeitung zu einem Vorbild für die Schweizer Hausfrauen. 1973 erscheint das erste grosse Kochbuch, vier Jahre später wird die Betty Bossi Verlags AG gegründet und damit zum eigenständigen, vom Mutterkonzern Unilever unabhängigen Unternehmen. 1995 geht die Betty Bossi Verlags AG an Ringier, 2001 übernimmt Coop 50 Prozent von Ringier. Der Medienkonzern verkauft im Dezember seinen Anteil an Coop. Inzwischen ist Betty Bossi eine 100-prozentige Tochterfirma von Coop.Die Betty Bossi AG beschäftigt 110 Mitarbeitende und wies im vergangenen Jahr einen Umsatz von 85 Millionen Franken aus. Elf Prozent davon wurden mit den Büchern erwirtschaftet. Zur Betty-Bossi-Produktepalette gehören heute nebst der Abo-Zeitung und dem Onlineportal Küchen- und Haushaltgeräte sowie ein bei Coop erhältliches Convenience-Food-Programm.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.08.13