Der Abschied von St. Malo fällt nicht leicht – auch wenn der Wirt keine Lust hat, den Gast länger zu bewirten. Und auch wenn Busse und Züge eher ein Hindernis als ein Verkehrsmittel sind.
Habe schwer mit mir gerungen bis zum Entschluss, St. Malo endgültig zu verlassen. Ein hübsches Städtchen, schon deswegen. Und diese Sonne abends am Meer – sie vermittelte eine grandiose Ferienstimmung. Das schlichte Hotelzimmer mit billigen Fourniermöbeln war ideal, grad so gross, dass man sich darin wenden konnte, bilderlose Wände und eine blau-gesprenkelte Tapete. Nur laute Engländer wagten sich in diese Absteige. Der Wirt, ungelenk, alt, misstrauisch und doch geschwätzig geworden, etwa fünfundsiebzig, wird es nur noch wenige Jahre führen. Und dann wird nur noch Stilllegung oder Totalsanierung denkbar sein. Eher ersteres.
Und ich hab beim langen Warten auf das Frühstück dann doch beschlossen, definitiv aufzubrechen – schon, weil die Serviertochter wegen Familienanglegenheiten, wie der Wirt sagte, für einige Tage in die Provence verreist war, und für ihn die Arbeit schon sehr anspruchsvoll sei. Er war wenig begeistert von meinen Erwägungen, länger zu bleiben. Und so zahlte ich.
Ich suchte den Bahnhof und erfuhr, dass ein Zug zwei Stunden nach Dinan brauche, von wo ich gestern nach St. Malo zurückgekehrt bin. Ein Zug? Das Umsteigen braucht soviel Zeit. Ein Bus versprach, schneller zu sein, auch wenn die gestrige Erfahrung nicht eben fürs Busfahren sprach. Er ging um ein Viertel nach zwölf – und da sassen dann ein Dutzend Gäste, ein französisches Paar, ich und der Rest englische Touristen, die in Dinan zu Mittag essen wollten. Der sehr dicke Fahrer – sein fetter Wanst hing unter dem Leibchen hervor bis auf den Sitz, was einen Engländer auch bewog, dies schamlos zu fotografieren. Also: Der sehr dicke Fahrer drehte den Zündschlüssel, die Musik verstummte, doch sonst geschah nichts. Nochmals, nochmals und nochmals. Alle nahmen´s zur Kenntnis – und es dauerte, wie in solchen Situationen halt üblich, etwa fünf Minuten, bis der erste Gast feststellte, da funktioniere was wohl nicht.
Das gängige Ritual
Weitere fünf Minuten und der Fahrer gestand die Panne ein. Er hob alle Motordeckel rings um den Car, schloss sie wieder. Das gängige Ritual eben, wenn was nicht funktioniert. Und wieder fünf Minuten, bis erste Gäste nach der Wahrscheinlichkeit fragten, ob mit einem Aufbruch wohl zu rechnen sei. Die Temperatur im Wagen stieg, die Raucher erhoben sich, zündeten draussen eine Zigarette an, die Engländer begannen um ihr Mittagessen in Dinan zu bangen, die Französin schimpfte über den Service und war empört, dass nicht längst ein Ersatzwagen bereitstand. Der Fahrer zückte das Natel und orderte Hilfe an.
Im offenen Sportwagen fuhr ein freundlicher, rothaariger Funktionär zehn Minuten später vor, schaute sich die Sache an und stellte fest, was auch der Fahrer schon festgestellt hatte: defekte Batterie. Die ersten Gäste verlangten das Fahrgeld zurück. Der Funktionär stellte einen anderen Car in Aussicht, der die Batterie überbrücken könne. In fünf Minuten. Man werde trotzdem zur Zeit in Dinan sein. Es mochte das niemand glauben, und als er etwas später von zehn Minuten sprach, schimpfte die Französin: Erst fünf, dann zehn, dann zwanzig Minuten. Die englischen Gäste mochten das der Spur nach verstanden haben und verlangten definitiv das Fahrgeld zurück.
Der Hilfswagen kam, eine Stunde war vergangen, der Motor sprang an und der geduldige Teil der Gäste stieg ein. Der Bus holte tatsächlich einen grossen Teil der Verspätung ein – indem er direkt auf der Autobahn nach Dinan fuhr und alle Zwischenhalte ausliess. Ich dachte an all jene Wartenden, die – wie ich gestern – an einer dieser Haltestellen standen. Immerhin habe ich den Bus vorbeifahren sehen, sie nicht mal das.
Dinan ist ein schönes, mittelalterliches Städtchen, enge Gassen, zwischendurch weite, baumlose und öde wirkende Plätze, Museen, Burgen, ein Kloster. Aufs Geratewohl marschierte und fragte ich mich südwärts durch und wurde von verschiedenen Leuten auf einen wunderbaren Pfad geführt: Ein Kanal mit einem parallel dazu verlaufenden Weg.
Jetzt in kurzen Hosen
Kilometerweit könne ich da gehen, sagte einer. Und so war es. Zog die kurzen Hosen an, das Leibchen aus und wanderte erstmals in Vollpackung bei angenehmer Hitze auf dem Weg von Schottland nach Sizilien los. Mühelos, topfeben und doch war ich bald bachnass – ach, tat das gut. Fischer am Ufer, einzelne Spaziergänger, manchmal Velofahrer und hin und wieder ein Boot, das vorbeituckerte. Die Leute grüssten und winkten, als führen sie durch einen Bildungsroman des neunzehnten Jahrhunderts. Immer wieder Schleusen mit ihren putzig kleinen Schleusenwärterhäuschen. Vor jedem zweiten mähte jemand den Rasen, die Familien sassen vor dem Haus und winkten.
In Evran stieg ich ins Dorf hinauf, kaufte etwas Proviant und eine Flasche Wein. Die Metzgerin verkaufte mir einen Salami, zu dem es gratis ein Messer gegeben hätte. Sie war erst beleidigt, als ich sie bat, das Messer wegzunehmen. Musste ihr erklären, dass es trotz der Schutzhülle in meinem Rucksack Schaden anrichten könne. Und so kamen wir ins Gespräch, sie fand es richtig, dass man sich im Leben hin und wieder einen Traum erfülle, wie ich es nun täte. Und sie erzählte von der Schweiz, die sie gut kenne, da sie lange in Mulhouse gearbeitet habe. Sie legte das Messer weg und versprach, es jemand anderem zu schenken.
Und nun steht das Zelt, ein Feuer brennt, im Kanal hüpfen die Fische und nebenan grasen Kühe. Sie machen einen ziemlichen Krach, wenn sie die Grasbüschel wegreissen. Aber der Fisch, gerade jetzt, der aus dem Wasser einer Mücke nachgesprungen ist, war noch lauter. Hat mich grad ein bisschen erschreckt.
(St-Domineuc, 1. Juni 2002)