Demokratie braucht Soziale Arbeit

Sozialpädagogische Massnahmen – aus dem Fenster geworfenes Geld? Der Professor für Soziale Arbeit, Peter Sommerfeld, nimmt Stellung zur «Sozial-Irrsinn»-Debatte. Soziale Arbeit ist für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Verfassungsauftrag. Teile der Massenmedien schlagen derzeit und immer wieder auf die Soziale Arbeit ein – die Rede ist von «Sozial-Irrsinn» und «Sozial-Industrie». Gleichzeitig wird das «soziale Netz» […]

Die Existenzberechtigung von Sozialer Arbeit gibt die Bundesverfassung.

Sozialpädagogische Massnahmen – aus dem Fenster geworfenes Geld? Der Professor für Soziale Arbeit, Peter Sommerfeld, nimmt Stellung zur «Sozial-Irrsinn»-Debatte. Soziale Arbeit ist für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Verfassungsauftrag.

Teile der Massenmedien schlagen derzeit und immer wieder auf die Soziale Arbeit ein – die Rede ist von «Sozial-Irrsinn» und «Sozial-Industrie». Gleichzeitig wird das «soziale Netz» als eine der grössten Errungenschaften der Schweiz bezeichnet.

Deshalb ist es notwendig, zu fragen: Was ist die Soziale Arbeit? Warum gibt es die Soziale Arbeit überhaupt, und zwar nicht nur in der Schweiz, sondern fast weltweit? Sind da seit über hundert Jahren immer schlechte Regierungen am Werk, die das Geld des Volkes unsinnig zum Fenster rauswerfen?

Zur Geschichte: Die Soziale Arbeit ist eine relativ neue Erfindung. Sie ist ein (spätes) Kind der Demokratiebewegung. Mit dem Übergang von einer feudalen Herrschaftsstruktur zu einer demokratisch legitimierten Gesellschaft tauchte eine neue Vision auf: Die Gesellschaft sollte frei (Freiheit), gerecht (Gleichheit) und damit zwingend solidarisch (Brüderlichkeit) sein. Aus diesen Werten leitet sich ein demokratisches Universalprinzip ab: die Teilhabe aller.

Als Slogan formuliert heisst das: ein gutes Leben für das Volk – also für alle. Das ist die demokratische Vision und zugleich der Anspruch an jede demokratische Regierung und Politik.

Integration durch Arbeit

Die Struktur der Gesellschaft hat sich also grundlegend verändert. Freiheit heisst, dass unsere gesellschaftliche Position nicht mehr durch Geburt vollständig definiert ist. Fast alle Menschen müssen ihren Platz in der Gesellschaft erwerben. Das geschieht massgeblich durch Erwerbsarbeit. Durch Arbeit wird jemand gesellschaftlich integriert.

Soziale Arbeit hat grundsätzlich die Aufgabe die Ungleichheiten auszugleichen.

Die Integration hängt von jedem Einzelnen ab – es ist aber auch wichtig, in welchen Strukturen sich jemand befindet. Der Einzelne kann zum Beispiel nicht beeinflussen, welche Eltern er hat, welche Sprache er spricht, welche Menschen er kennenlernt. Die Chancen werden mit der Geburt immer ungleich verteilt. Soziale Arbeit hat grundsätzlich die Aufgabe die Ungleichheiten auszugleichen.

Der natürliche Integrationsprozess – also ohne Hilfe – gelingt für die meisten. Er kann aber auch scheitern oder Nebenwirkungen erzeugen: Gewalt in der Familie, Alkoholsucht mit erheblichen sozialen Folgen, psychische Probleme aufgrund von Überlastung am Arbeitsplatz, strukturelle Arbeitslosigkeit, soziale und emotionale Verwahrlosung von Kindern und so weiter und so fort.

Man könnte den Standpunkt einnehmen: Das ist uns egal. Haben die Menschen eben ihre Probleme. Sie werden wohl selber schuld sein. Und Schluss. Dieses Bild wird seit Jahren mit dem medialen Dauerbeschuss und von der SVP – die angeblich eine Partei des Volkes ist – in die Köpfe der Bevölkerung gehämmert.

Verfassung schreibt Soziale Arbeit vor

Es ist uns aber nicht egal. Und zwar wegen der demokratischen Grundwerte. Es ist dem Schweizervolk, ebenso wie vielen Völkern dieser Erde nicht egal. «Das Schweizervolk und die Kantone (…) gewiss, dass (…) die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung.» Diese Formulierung aus der Präambel der Schweizer Verfassung ist ein Auftrag an die Politik und ein Mass für ihren Erfolg.

Die Soziale Arbeit entsteht historisch gesehen aus diesem Spannungsfeld zwischen der demokratischen Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft und der Realität einer demokratisch verfassten Gesellschaft – einer Gesellschaft also, die den zugegebenermassen hohen Anspruch nur bedingt einlöst.

Soziale Arbeit ist ein Beitrag, eine demokratische Gesellschaft ein bisschen besser zu verwirklichen.

Soziale Arbeit ist so gesehen ein Beitrag, eine demokratische Gesellschaft ein bisschen besser zu verwirklichen. Die sozialen Probleme müssen nämlich bearbeitet werden, wenn der Anspruch aufrechterhalten werden soll.

Und genau das tut die Soziale Arbeit in unterschiedlichen Feldern. Zum Beispiel in der Schule, im Spital, beim Sozialdienst, in der Suchthilfe, in der Opferhilfe, bei der Behindertenhilfe, in Betrieben, in der Jugendarbeit, in der Jugendhilfe, in der Seniorenarbeit, in der Familienarbeit – überall dort, wo soziale Probleme auftreten und die gesellschaftliche Integration und die Lebensführung der betroffenen Menschen beeinträchtigt ist.

Es gibt keinen Hunger mehr

Der einfachere Teil, wie man die sozialen Probleme bearbeitet, ist es, diesen Menschen einfach Geld zu geben, damit sie nicht in materielles Elend abgleiten. Wenn dies getan wird, dann ist das bereits ein Fortschritt und eine Errungenschaft, auf die wir als Schweizervolk stolz sein dürfen: Es gibt keinen Hunger mehr, die materielle Grundversorgung des Volkes ist dank der Sozialversicherungssysteme und der Sozialhilfe gesichert.

Das löst jedoch nur eines der Probleme. Das eigentliche Problem bleibt bestehen: Die Ursache, die zu den sozialen Problemen geführt hat und letztlich ein «gutes Leben» verhindern, verschwinden nicht durch ein bisschen Geld. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen bezeichnet Armut als «capability failure» («Scheitern der Befähigung»). Er meint damit, dass das Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten und den gesellschaftlich bereitgestellten Verwirklichungschancen versagt.

Das ist die schwierige Aufgabe der Sozialen Arbeit, nämlich mit diskriminierten, verstossenen, schwachen, beschädigten, verletzten, beeinträchtigten, gefährdeten, schlecht gebildeten, misshandelten, traumatisierten Menschen zu arbeiten und ihnen so weit wie möglich ein «gutes Leben» zu ermöglichen. Damit sie trotz alledem einen wertvollen und wertgeschätzten Platz in dieser Gesellschaft einnehmen können – und zwar unter der Massgabe, dass diese Gesellschaft ihnen weitgehend keine guten Verwirklichungschancen zur Verfügung stellt, weil sie eben beeinträchtigt sind.

Beitrag zum sozialen Frieden

Diese anspruchsvolle Aufgabe der Sozialen Arbeit benötigt Fachlichkeit und Professionalisierung, so wie es in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch üblich ist. Im Bildungs- und Gesundheitsbereich ist es selbstverständlich so, dass ausgebildete Fachkräfte arbeiten und diese Einrichtungen haben ebenso einen zentralen Wertebezug wie die Soziale Arbeit.

Die fachliche Entwicklung der Sozialen Arbeit in den letzten 30 Jahren ist beachtlich. Es ist keine Frage, dass hier noch einiges an Entwicklungspotenzial besteht. Viele, insbesondere an den Hochschulen, aber auch im praktischen Alltag der Sozialen Arbeit, arbeiten daran.

Soziale Arbeit ist ein Beitrag zum sozialen Frieden.

Das ist in meinen Augen die eigentlich grosse Errungenschaft in der Tradition der demokratischen Idee, des Humanismus oder auch unseres christlichen Erbes, nämlich dass die Würde dieser benachteiligten Menschen als absoluter, «unantastbarer» Wert gesetzt wird, und dass damit das zu anderen, dunklen Zeiten «unwerte» Leben gesellschaftlich wertgeschätzt wird, indem uns diese Menschen und ihre Probleme nicht egal sind, indem wir diesen Menschen Respekt entgegenbringen und indem wir als Volk uns deren Unterstützung etwas kosten lassen.

Soziale Arbeit ist also ein Beitrag für diejenigen, die Hilfe benötigen, ein «besseres Leben» zu führen. Sie ist aber auch ein Beitrag zum sozialen Frieden – und der ist für alle unbezahlbar.

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Peter Sommerfeld hat ausserdem einen offenen Brief an die Vertreter der Presse geschrieben: Stellungnahme zur Kampagne von Blick und Sonntangszeitungen zum «Sozial-Irrsinn».

 

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