Armut ist kein Exportschlager. Dennoch kommt sie auch in Europa näher – in den Filmen. Locarno zeigte, wie die Reichen sich wappnen, freuen oder auch langweilen.
Es sind die Mainstream-Veranstaltungen auf der Piazza, die dem Filmfestival Locarno das Gesicht verleihen. Sie bieten Event und Entertainment. Was daneben im internationalen Wettbewerb oder in den anderen Sektionen (etwa «Cineasti del Presente») gezeigt wird, ist das, was Locarno aufregend macht. Mit diesen Filmen formuliert Locarno sein europäisches Selbstverständnis. Mit ihnen kann Locarno, als grösstes der kleinen europäischen Festivals, ein gültiges Schaufenster der Schweiz sein.
Die internationalen Fiction-Produktionen reissen sich zwar nicht sonderlich darum, für eine Weltpremière in die Schweiz zu reisen. Venedig, Berlin oder Cannes haben da erste Wahl. In einer Sparte aber geniesst der Schweizer Film nachhaltiges Interesse: In der «Semaine de la Critique» präsentiert Locarno jeweils sieben Perlen der Dokumentarfilmkunst.
25 Jahre «Semaine de la Critique»
Der Andrang des Publikums bewies es: Auch was Kritiker gut finden, gefällt. Die sieben Veranstaltungen, für die man in Locarno auch schon mal eine Stunde Schlange stehen muss, haben mit den anschliessenden Diskussionen echten Festivalcharakter: Die Zuschauer treffen Filmemacher und sehen sich gern in der Rolle der Trüffelschweine. Schliesslich will jeder am Ende des Festivals die wichtigen Filme gesehen haben.
Eine klare Tendenz dieses Jahr: Der Dokumentarfilm beinflusst immer stärker auch die fiktiven Erstlingswerke. Er kommt auch im Wettbewerb stärker zur Geltung. Die Wirklichkeit, so scheint es, drängt via Dokumentarismus vermehrt in die Fiktionen. Durch alle Filme zog ein Stück Wirklichkeit, das den Schweizern Stephanie Barbey und Luc Peter Anlass zu «Broken Land» war: Die Mauer zwischen Arm und Reich. Sie liefert das Thema, das über dem ganzen Filmfestival von Locarno 2014 stehen könnte.
Bereits der Prolog von «Broken Land» lässt die narrative Kraft des Themas ahnen. Durch die Wüstendünen knattert in der Ferne ein mit amerikanischer Flagge geschmücktes hochrädriges Fahrzeug. Eine Nahaufnahme richtet den Blick auf archäologische Überbleibsel im Sand. Sie wirken wie die Spuren einer vergangenen Zivilisation. Kinderschuhe, Konservendosen, Plastikflaschen. Das verschüttete Plastikspielzeug könnte gar ein chinesisches Relikt sein. Wir sind schliesslich an einer Mauer.
Das Dokumentarfilmpaar Stephanie Barbey und Luc Peter hat über Jahre an der Mauer, die neuerdings den amerikanischen Kontinent zweiteilt, gedreht. Der Kameramann Peter Mettler hat ein kunstvolles, hochmusikalisches Zeugnis geschnitten, das einem Publikum Genuss mit Verstand bietet.
Mauern, wohin das Kamera-Auge fällt
Die Chinesische Mauer schützte einst das Reich der Mitte vom Reich der Mittellosen. Den «Limes» liess der römische Kaiser Adrian bis nach England errichten, um über hunderte von Kilometern das Reich und seinen Reichtum vor den Barbaren zu schützen. Im deutschen Sprachgebrauch versteht man unter «Der Mauer» jenen «Wall», über den Ronald Reagan in Berlin den Satz rief: «Mister Gorbatschow, tear that wall down!». Es war die Mauer, die das Europa der Privateigentümer vom Europa der Staatseigentümer trennte.
Während überall auf der Welt die Armen von Waffen zu Völkerwanderungen gezwungen werden, igelt sich Nordamerika hinter einer bewaffneten Mauer ein. Freimütig erzählt ein amerikanischer Bürger, wie Mexikaner riechen, wenn sie an seinem Haus vorbei flüchten. Hinter ihm steht derweil sein Schäferhund vor einem Käfig mit frisch geschlüpften Küken. Neugierig. Fast liebevoll lobt das Herrchen seinen Hund dafür, dass er so lieb ist zu den aufgeregten Tierchen.
Über hunderte von Kilometern folgen wir der Befestigungsanlage, die die Armen vom reichsten Land der Erde fernhalten soll. Aber ein stahlgewordenes Monument des Krieges der Reichen gegen die Armen braucht auch Gottes Segnung. Eine christliche Religionsgruppe bemüht sich, für die Verteidigung des Reiches Gottes zu beten. Zumindest einer der Grenzbewohner glaubt, dass er möglicherweise einer der letzten Glücklichen des Universums sein könnte, der das alles überlebt. Die 3200 Kilometer Stahl sollen ihm dieses Paradiese erhalten.
Die Stahltür und der Schweizer Bunker-Mauer
Doch der Stahlwall wurde in Locarno auch in einem anderen Land ausgemacht: Eine Stahltür, die jedem Schweizer vertraut ist, zeigt uns Fernand Melgar («Voil Spécial») in seinem Dokumentarfilm «L’Abri».
Jeden Winterabend ist es dasselbe Bild in Lausanne. Die schwere Metalltüre zum Zivilschutzbunker öffnet sich. Ein Betreuer tritt ans Portal und entscheidet, wer heute Nacht draussen bleiben muss. Nicht alle armen Schlucker, die heute in der Kälte Schlange stehen, wird er hereinlassen können.
Melgar schildert diesen Alltag – oder besser die Allnacht – in einer Notschlafstelle. Ein Zivilschutzbunker, wie ihn jeder Schweizer schon einmal besichtigt hat, hat dicke Mauern. Für den Kriegsfall sind sie auch bombensicher.
Schliesst sich die Stahltür, haben die Obdachlosen, die abgewiesen wurden, für eine weitere Nacht kein Dach über dem Kopf. Fernand Melgar öffnet dann wenigstens mit der Kamera den Blick auf der anderen Seite des Stahlwalls. Dann blickt man hinaus auf den See und in den Himmel über Lausanne, in eine traumhaft schöne Morgenstimmung, die hoffen lässt, es käme nie wieder eine Nacht.
Das Leben hinter ersehnten Mauern in «L’Abri»
Melgar ist nicht der einzige Schweizer Filmemacher, der die Abweisung von Armen aus dem Reich der Reichen thematisiert: Auch Peter Luisi thematisiert die Armutsmigration. Er wagt als Fiktion etwas weit Schwierigeres. Eine Utopie der Solidarität. Mit seinem Projekt rannte er schon vor der Produktion seiner Komödie «Schweizer Helden» bei Fördergremien gegen eine Wand. Alle hielten sie das Thema für zu gewichtig wichtig, als dass es in einer Komödie behandelt werden dürfte. Doch Luisi blieb sich treu. Er riskierte den Bungee ohne Seil. Er mobilisierte seine Freundschaften mit Secondos, die – mit ihm – fast ohne Entgelt arbeiteten. Kein anderer hätte sich – unbeirrt von der Komplexizität des Stoffes – so leichtsinnig leicht an dieses Thema gewagt.
Luisi organisierte selbst, fuhr selbst, produzierte selbst mit. Er machte weiter, als ein risikofreudiger Wahnsinniger. Und beschämt nun all jene, die zu dem Thema lieber einen besseren Film gesehen hätten.
Auf der Piazza fand denn «Schweizer Helden» bei 6000 Zuschauern auch klatschende Begeisterung. Auch wenn Luisi vieles nicht geglückt ist – er bewies zumindest eines: Dass man aus dieser andächtigen Ergriffenheitsstarre hinauskommen muss, die Schweizer meist packt, wenn sie anfangen, über den Flüchtlingsstrom nachzudenken. Luisi sucht das entkrampfte Lachen und riskiert, dass an der falschen Stelle gelacht wird.
Der palästinensische Mauer-Fall
Eine weitere Mauer war in Afrika zu besichtigen. Eine Mauer, die ein Land zweiteilt und die Gedanken der Bewohner. Der israelische Regisseur Eran Riklis (Die syrische Braut) verspricht mit «Dancing Arabs» Trost – diesseits und jenseits der Mauer in Palästina:
Eyad, das stolze Palästinenserkind, will auch auf seinen Vater stolz sein. Doch sein Vater ist ein einfacher Mann. Das will Eyad so nicht sehen. In der Schule behauptet das Kind, sein Vater sei ein Held. Es geht sogar noch weiter: Sein Vater sei ein Terrorist. Auch wenn der Lehrer Eyad mit Tatzen bestraft – er schreit es weiter hinaus: Mein Vater ist Terrorist. Selbst als ihm nach den Schlägen des Lehrers die Tränen aus den Augen rinnen, bleibt er stur. Er würde dafür in den Tod gehen: Sein Vater ist kein Langweiler. Er ist ein Terrorist!
Warum Eran Riklis das erzählt, wird im nächsten Bild klar: Der kleine Eyad fragt, kaum ist er zu Hause, was das eigentlich sei, ein Terrorist? Da setzt sich etwas in den kindlichen Kopf, als wären seine Gedanken schon von einer Mauer umgeben.
Als Eyad dann in die beste Schule angemeldet wird (es ist eine jüdische Schule auf der anderen Seite der Mauer), findet er sich unter israelischen Jugendlichen wieder. Plötzlich sieht er sich einer neuen Mauer – der Verachtung – gegenüber.
Erst in dem todkranken Jonathan findet Eyad unerwartet einen Freund. Die Freundschaft nimmt gar Jonathans Mutter ein. Als sie nach dem Tod ihres Sohnes Jonathan Eyad sogar hilft, die Identität ihres Sohnes anzunehmen, fällt die Mauer der Verachtung – fast. Denn auch der frischgebackene Israeli Eyad wagt es nicht, seine Liebe zu Noemi öffentlich zu machen: die höchste Mauer, die wir kennen, bleibt: Die Mauer in den Köpfen.
Die unsichtbare Mauer des Schweigens in «Durak»
Wer glaubt, die amerikanische Mauer sei mit 3200 Kilometern die längste, könnte sich täuschen: In Locarno fand Yury Bykov mit «Durak» grosse Beachtung. Er stiess uns filmisch auf eine Mauer, die Russland und anderen Ländern durch Korruption zur Zeit wieder hochgezogen wird – die Mauer des Schweigens.
Als «Durak» (Narr) wird im russischen Kartenspiel derjenige Spieler bezeichnet, der als letzter die Karten auf der Hand hat. Wenn der Russe Yury Bykov seinen Film über die Korruption in Russland also nach dem Kartenspiel benennt, spricht er auchüber das Kartenhaus Demokratie.
Dazu hat Yuriy Bykov die Crème de la Crème der Schauspieler um sich versammelt. Grandios, wie bescheiden Yuriy Bykov anfängt. Mit ein paar Schnitten hat er ein BeziehungsnNetz um die Hauptfigur gespannt: Eine russische Durchschnittsfamilie ist zu Tisch – im Gespräch. Im Zentrum hält das Urgewicht Mutter – ein Mütterchen Russland – Hof. Der Vater will die Sitzbank vor dem Haus reparieren. Der Sohn will nicht helfen. Die Mutter weist beide zurecht. Damit ist die Geschichte angelegt. Die Angelegenheiten anderer gehen uns nichts an.
Yuriy Bykov kann auf ein Ensemble von grossen russischen Artisten vertrauen, wenn er, wie Maxim Gorki, nach «ganz unten» schaut. Dorthin, wo die Ärmsten leben.
In einem Wohnheim ist die Stimmung aufgeheizt. Als der betrunkene Vater seine Tochter verprügelt, birst im Bad ein Wasserrohr und verbrüht ihn. Als der Klempner Nikitin um Mitternacht den Schaden besichtigt, stösst er auf mehr als nur ein leckes Rohr: Ein Riss geht durchs ganze Haus.
Im Kartenspiel ‚Durak‘ gibt es nur einen Verlierer, keine Gewinner
Der Riss durch die versteinerte Gesellschaft
Es geht hier um mehr, als nur einen Rohrbruch. Die Fundamente sind morsch. Das Wohnheim steht kurz vor dem Einsturz. 819 Menschenleben sind in unmittelbarere Gefahr. Der Handwerker Nikitin, von Artem Bystrov grossartigbieder gespielt, ist entschlossen.
Sein Entscheid, die oberste Chefin heute Nacht zu stören, wird zum Knaller. Obwohl die Chefin ihr Jubiläum feiert, mit all jenen, die für die Schlamperei verantwortlich sind, hat er den Mut: Nur seine Mutter ahnt, was es heisst, eine Chefin der Korruption zu überführen. Nutzniesser und Mitwisser der Schweigemauer
Doch Nikitin ist unbeirrbar. Seine Frau will ein besseres Leben. Nikitin führt, wie sein Vater, das Leben einer ehrlichen Haut. Er hat keine Feinde geschmiert. Er hat sich nicht von Freunden schmieren lassen. Er lässt die Feier der Chefin platzen.
Yuriy Bykov kann narrativ eine derartig vertrackte Diskussionen der Moral führen, wie einst Sidney Lumet. Er kann auch die bedingungslose Autenthizität seines Milieus behaupten, wie wir es etwas aus den heutigen Theater-Inszenierungen des Alvis Hermanis kennen. Die absolut zynismusfreie Emotionalität der Schauspieler geht in «DURAK» fast über die Schmerzgrenze.
Viel Old-School-Didaktik
Yuriy Bykov verbindet seine erbarmungslos moralische Urteilssuche mit all seinen Vorbildern: Unbeirrt von allen modischen Zynismen skizziert er vor unseren Augen eine korrupte Stadt-Verwaltung, die «vom Kopf her fault». Bykov bleibt ganz der russischen Tradition treu: Wie der «Selbstmörder», von Nikolai Erdmann, oder der Yankev-Yosl, in «75000», von Sholem Aleichem, fällt der Hoffnungsträger und Retter in Ungnade. Yuriy Bykov führt das Kartenspiel an sein bitteres Ende: Der Narr «Durak» wird ausgestossen. Er entgeht noch dem Tötungsversuch der Nutzniesser. Danach schickt Nikitin noch Frau und Kind weg und – zieht wieder los, um Menschen zu retten. Der Narr. Bald richtet sich die Mauer des Schweigens um ihn auf.
Eine Fotografie aus dem Entwicklerbad: Lav Diaz‘ Monsterwerk
Die Leinwand als undurchdringliche Mauer
Doch Locarno kann noch mehr: Es kann auch Filme zeigen, die nur in exklusiven Klubs zu sehen sein werden: Am eindrücklichsten dokumentierte das Näherkommen des Krieges der philippinische Regisseur Lav Diaz. In fünfeinhalb Stunden, dem normalen Arbeitstag eines Staatsangestellten, lässt der Sieger des Goldenen Leoparden den Krieg, den General Marcos gegen sein Volk führte, vor unseren Augen, schwarzweiss fotografiert, wie aus einem altmodischen Entwicklungsbad entstehen.
«Mula Sa Kung Ano Ang Noon» entwickeln sich die Ungeheuerlichkeiten in der beschaulicher Ruhe eines Trauerzuges. Er lässt Menschen ganz langsam ins Bild kommen, aus der Echt-Zeit der Ureinwohner wandeln sie in die Unzeit der mordenden Generäle.
Diaz ist einer, der in der Komposition einer einzigen Fotografie (die ja eigentlich übersetzt «Bilderschrift» bedeutet) bereits einen ganzen Film versteckt. So lange lässt er manche Bilder vor uns stehen, bis in uns der eigene Film anfängt zu rollen.
In bedrohlicher Betulichkeit kommt die grosse Tragödie nur allmählich ins Licht: Häuser brennen, Menschen werden ermordet, Gräber geplündert. Dabei ist Diaz’ Monsterwerk ist gar nicht so einfach einzuordnen. Einerseits ist es der hypernatualistischen Fotografie des Michio Hoshino verpflichtet. Andererseits beweist Diaz auch die Beharrlichkeit eines Friedrich Wilhelm Murnau, der in Tahiti seinen «Tabu» realisierte. Die Film-Zeit und die Real-Zeit von Diaz sind fast eins. Mit 338 Minuten Schwarz-Weiss-Bilder schafft er es, uns ganz in den surrealen Sog seiner Geschichten hineinzuziehen: Der Geschichte einer fernen Militär-Diktatur.
Diaz liefert einen prächtigen Grundkurs in Filmbetrachtung durch Betrachtung. Das ist es, worauf der künstlerische Festivalleiter von Locarno sich freute, als er das Festival eröffnete: «Dass mir Geschichten erzählt werden».
Minutenlang nähern sich uns Menschen in einer Natur, die sich Zeit lassen darf, ja sogar Jahreszeit lässt. Die Menschen haben ebenfalls alle Zeit, um sich weinend, beschwörend, oder einfach nur schreitend um ihr Leben zu kümmern. Da muten Szenen, wo die Marketenderin Moskitonetze verkauft, wie kleine Komödieneinlagen. Diaz fängt definitiv das ein, was diese Urwald-Menschen von uns trennt. Sie haben Zeit. Das heiss: Sie sind von in einer anderen Welt. Die Verheerungen, die die Arbeitslosigkeit anrichtet, kommt aber meist als Kleinkrieg von Arm gegen Arm ins Kino.
Auch in Europa wächst die Mauer zwischen Arm und Reich
Während Diaz den Krieg langsam näher rücken lässt, sind die Bilder aus Eropa vom Stillstand geprägt. In dem völlig übersteuerten «A Blast» lässt der Grieche Syllas Tzoumerkas eine Arbeitslose ausrasten. Im italienischen Film «Perfidia» von Bonifacio Angius ist der Arbeitslose Sohn mit 40 noch immer nicht in der Lage, erwachsen zuwerden. Der europäische Fiction-Film denkt zwar über Armut nach: Aber Armut ist kein Exportschlager, dem man gern die Grenzen öffnet. Die Arbeitslosigkeit sähe man lieber als das Problem der anderen. Während die Arbeitslosigkeit bei den Politikern nicht dramatisiert wird, ist sie bei den Filmern angekommen: In Frankreich hat man in diesem Jahr die «Intermittants», jene Teilzeitbeschäftigten, ohne die die Film-Produktion gar nicht leben kann, aus der Arbeitslosenkasse verbannt. In einem Jahr werden wir die Filme darüber sehen.