«Der Geheimdienst fusst auf einem reinen Vertrauensprinzip»

Der Datenschutz-Experte Martin Steiger meint, es wäre naiv zu glauben, dass wir in der Schweiz nicht überwacht werden. Im Interview spricht er über «Charlie Hebdo», Cyberwar und das neue Fernmeldegesetz.

IT-Rechtsanwalt Martin Steiger engagiert sich ehrenamtlich für die Digitale Gesellschaft Schweiz. (Bild: Jonas Landolt)

Der Datenschutz-Experte Martin Steiger meint, es wäre naiv zu glauben, dass wir in der Schweiz nicht überwacht werden. Im Interview spricht er über «Charlie Hebdo», Cyberwar und das neue Fernmeldegesetz.

Auf dem Bürotisch liegt ein iPhone mit verklebter Kamera, im Wandregal stehen Bücher über Internetsicherheit. Die Kanzlei von IT-Rechtsanwalt Martin Steiger liegt in einer Seitengasse mitten im Herzen Zürichs. Seine Mandanten kommen häufig mit Datenschutz-Fällen zu ihm, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Recht auf Vergessen bei Suchmaschinen und in Online-Medien.

Das Thema Privatsphäre ist wieder ein Thema, seit Terroristen in Paris Attentate verübten. Im März verhandelt der Nationalrat über die Verschärfung des Bundesgesetzes betreffend der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf), die vorbereitende Kommission hat das Gesetz gerade gut geheissen. Ausserdem wird im Parlament ein neues Nachrichtendienstgesetz (NDG) behandelt.

«Als Politiker wäre ich auch sehr vorsichtig zu sagen, dass wir dieses Gesetz nicht brauchen», sagt Steiger in Hinblick auf die politische Debatte. Wenn das Gesetz nicht verabschiedet wird und danach ein Terroranschlag stattfindet, sehe man als Politiker «ziemlich alt aus».

Das Gespräch beginnt zögerlich, Steiger antwortet knapp. Am Ende geht er mit reger Hingabe auf die Fragen ein – und redet noch weiter, als das Aufnahmegerät bereits aus ist.

Nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» werden die Stimmen wieder lauter, die mehr Überwachung und bessere Geheimdienste fordern. Finden Sie das angemessen?

Martin Steiger (36) ist Rechtsanwalt und spezialisiert auf Recht im digitalen Raum. Nach dem Studium an der Universität St. Gallen (HSG) arbeitete Steiger unter anderem in grossen internationalen Anwaltskanzleien in Zürich sowie in der Luftfahrtindustrie. Seit 2008 führt er seine eigene Anwaltskanzlei. Ehrenamtlich engagiert sich Steiger in netzpolitischen Fragen bei der Digitalen Gesellschaft Schweiz, die sich insbesondere für Freiheit im Internet einsetzt und beispielsweise Beschwerde gegen Massenüberwachung durch die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz erhoben hat. In seiner Freizeit betreibt er als Pilot privaten Motor- und Segelflug

Von einem einzelnen Ereignis ausgehend, kann man diese Frage nicht sinnvoll diskutieren. Aus meiner Sicht führt dieses Ereignis allein nicht dazu, dass Nachrichtendienste aufgerüstet werden müssen.

Und wenn wir angesichts dieses Anschlags auf eine erhöhte Bedrohungslage schliessen?

Als Mensch habe ich ein natürliches Bedürfnis nach Sicherheit. Ich will nicht, dass Freunde, Familienmitglieder oder ich selbst durch Terroristen zu Schaden kommen – niemand möchte das. Es sind aber nicht Bürger wie Sie und ich, die mehr Überwachung fordern, sondern es sind andere, die nach jeder Straftat, jedem Anschlag immer das Gleiche verlangen. Es geht jeweils nur vordergründig um mehr Sicherheit für uns Bürger, vielmehr geht es um noch mehr Mittel für staatliche Sicherheitsbehörden.

Bessere Geheimdienste können doch auch mehr Sicherheit gewährleisten.

Das kann man schlicht nicht beurteilen, da es keine belastbaren Fakten dazu gibt. Bemerkenswert ist doch, dass die Geheimdienste bei Terroranschlägen wie in Paris die Attentäter meistens längst schon im Visier hatten. Dieses Problem deutet darauf hin, dass die Geheimdienste schon mit den heutigen Mitteln nicht umgehen können. Sie haben bereits umfassende Kompetenzen. Man müsste also schauen, wie Geheimdienste mit den bestehenden Möglichkeiten besser umgehen könnten, anstatt noch mehr Möglichkeiten zu fordern.




Martin Steiger: «Man stellt einfach etwas in den Raum, behauptet, es bringe mehr Sicherheit, ohne dass es aber jemals jemand unabhängig überprüfen kann.» (Bild: Jonas Landolt)

Wie könnten die Geheimdienste denn verbessert werden? Wären mehr Stellen eine Option?

Es könnte durchaus sinnvoll sein, mehr qualifizierte Mitarbeiter zu rekrutieren. Das heisst aber nicht zwingend, dass es tatsächlich mehr Leute braucht. Wobei es eher auf die Qualität als auf die Anzahl neuer Geheimdienst-Mitarbeiter ankommt.

Der französische Staat rüstete jüngst die Geheimdienste auf und schuf über 2000 neue Stellen. Der Bundesrat hat für den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) gerade mal sechs neue Stellen geschaffen.

Politiker reagieren in solchen Situationen ziemlich kopflos. Richtig wäre, die Situation sachlich zu beurteilen und sich nüchtern zu fragen: Welche geheimdienstlichen Mittel haben wir heute? Funktionieren diese Mittel? Falls nicht: Verzichten wir in Zukunft nicht besser darauf? Können wir bestehende Mittel verbessern? Und benötigen wir tatsächlich mehr Geheimdienst-Mitarbeiter? Beim NDB haben wir das Problem, dass wir als Bürger mangels Transparenz eigentlich nichts wissen. Ab und zu gibt der NDB-Chef ein Interview oder einem Journalisten werden eigennützig Informationen gesteckt. Aber prinzipiell ist alles geheim. Es gibt keine Erfolgskontrolle. Ich nenne das auch Sicherheitsesoterik: Man stellt einfach etwas in den Raum, behauptet, es bringe mehr Sicherheit, ohne dass es aber jemals jemand überprüfen kann.

Geheimdienste arbeiten prinzipiell geheim – ansonsten könnten sie ihren Betrieb einstellen.

Beim NDB kennt man im Wesentlichen nur die gesetzlichen Grundlagen. Und ab und zu, wenn es zu besonders gravierenden Missständen kommt, erscheint ein parlamentarischer Untersuchungsbericht. Es gibt jedoch weder eine wirksame Aufsicht noch eine Erfolgskontrolle. Der NDB fusst quasi auf einem reinen Vertrauensprinzip. Das ist in einem Rechtsstaat problematisch. Menschen neigen dazu, über die Stränge zu schlagen. Es ist immer gefährlich – nicht nur beim Geheimdienst –, wenn unendlich viele Mittel zur Verfügung stehen und diese nicht wirksam kontrolliert werden.

Was würden Sie sich denn vom Geheimdienst wünschen?

Mehr Transparenz. Es wäre wünschenswert, vollständig zu erfahren, worin der genaue Auftrag des NDB besteht. Ausserdem würde ich mir eine wirksame Aufsicht wünschen. Es ist völlig klar, dass nicht alles öffentlich sein kann. Das ist auch bei der Polizei so. Zum Beispiel informiert die Polizei nicht ständig, wie viele Polizisten gerade in Zürich für die Sicherheit sorgen. Aber wir wissen, wie viele Polizisten es gibt, wie sie bewaffnet sind, welche Mittel zur Verfügung stehen, sogar Dienstanweisungen werden öffentlich. So etwas fehlt beim Geheimdienst völlig. Eigentlich können wir bislang gar nicht demokratisch entscheiden, wie unser Geheimdienst funktionieren soll oder ob wir überhaupt einen Geheimdienst benötigen. Wer in einem demokratischen Rechtsstaat Mittel beanspruchen möchte, sollte überzeugend aufzeigen müssen, wie das Ganze funktioniert. Politiker und Bürger können sich im Normalfall ein Bild davon machen, wofür Steuergelder ausgegeben sollen, und dann darüber entscheiden. Das funktioniert beim NDB überhaupt nicht.

Stichwort Massenüberwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA. Sie haben für die Digitale Gesellschaft in der Schweiz eine Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht. Warum?

Wer sich in der Schweiz rechtswidrig verhält, muss strafrechtlich verfolgt werden. Die Bundesstaatsanwaltschaft hat die Strafanzeige nicht an Hand genommen. Wir vermuten, dass die Bundesanwaltschaft nicht gegen die Massenüberwachung ermitteln will, weil sie selbst von den Daten profitiert, die von ausländischen Geheimdiensten in der Schweiz gesammelt werden. Sie wäre also befangen, was ein gravierendes Problem darstellen würde.

Es wäre naiv zu glauben, dass bei uns keine Überwachung stattfindet.

Die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der NSA ist durch Dokumente von Whistleblower Edward Snowden bekannt, wurde aber meines Erachtens nie offiziell bestätigt. Aber wenn sie notwendig sein und gut funktionieren sollte, dann müssten Bundesrat und der Chef des NDB offen hinstehen und sagen: Ja, wir nutzen Daten der NSA und wir liefern Daten an die NSA, weil wir dadurch Terroranschläge und andere Straftaten verhindern können. Ich schliesse nicht kategorisch aus, dass es die Zusammenarbeit braucht. Nur: Wir können sie nicht bewerten, weil wir null Informationen haben.

Sie meinen, wenn es positive Beispiele gäbe, die den Erfolg der Überwachung belegen würden, dann hätte dies der NDB bereits kommuniziert?

Das wäre naheliegend. Politik funktioniert im Normalfall so. Es wäre auch naheliegend, sich Zahlen aus anderen Ländern anzusehen. Es deutet beispielsweise nichts darauf hin, dass in Frankreich die Terrorgefahr geringer ist als in Deutschland, weil die französischen Behörden mit der Vorratsdatenspeicherung mehr Möglichkeit haben als ihre deutschen Kollegen.

Wie umfassend ist denn die Überwachung in der Schweiz bereits heute? Konkret gefragt: Wer liest die SMS, die ich an meine Freundin schicke?

Standardmässig werden in der Schweiz keine Inhalte durch Sicherheitsbehörden überwacht. Ihre SMS an die Freundin sollte grundsätzlich keine Sicherheitsbehörde ohne weiteres mitlesen. Die Auswertung von Inhalten ist nur dann vorgesehen, wenn eine Sicherheitsbehörde gegen Sie oder Ihr Umfeld direkt ermittelt. Hingegen werden im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung die sogenannten Metadaten Ihrer Kommunikation erfasst. Aus Metadaten kann man ohne weiteres auch viele Informationen über den Inhalt der Kommunikation gewinnen.

Und wenn man illegale Überwachung der Geheimdienste dazu zählt?

Es ist bekannt, dass Überwachung durch ausländische Geheimdienste in der Schweiz stattfindet. Am UNO-Standort Genf zum Beispiel muss man von einer Überwachung im grossen Stil ausgehen. Es wäre naiv zu glauben, die sogenannte Kabelaufklärung, die das neue NDG vorsieht, würde heute nicht bereits stattfinden und uns alle betreffen.

Wie kann ich als Normalbürger gegen mögliche Überwachung beispielsweise durch die NSA vorgehen?

Auf der persönlichen Ebene hilft eigentlich nur die sichere Verschlüsselung aller Daten und Kommunikation. Daneben gibt es viele Möglichkeiten für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement. Kurz vor den Wahlen könnten Bürger ihre Politiker fragen: Was machen Sie eigentlich, um mich vor Überwachung zu schützen?

Politiker sind im Moment eher dabei, die Überwachung zu verstärken. Das Fernmeldegesetz (Büpf) soll revidiert und damit die Speicherung von Vorratsdaten von sechs auf zwölf Monate verlängert werden.

Das ist ernüchternd. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Frühling 2014 deutlich festgehalten, dass das Speichern dieser sogenannten Metadaten gegen fundamentale europäische Menschenrechte verstösst. In der Schweiz ist das Signal offensichtlich nicht angekommen. Das Parlament möchte nicht nur an der bisherigen Vorratsdatenspeicherung festhalten, sondern die Speicherfrist sogar noch verdoppeln – das ist jenseits von Gut und Böse. Auch hier wäre zu prüfen, ob Vorratsdatenspeicherung überhaupt wie versprochen funktioniert. Ausserdem wird der Grundsatz der Verhältnismässigkeit durch eine solche Massenüberwachung zwangsläufig verletzt, was sie rechtsstaatlich eigentlich ausschliesst.

«Ich setze mich für Internetfreiheit ein, weil sich unser Alltag immer mehr in den digitalen Raum verschiebt.»

Ein weiteres Thema ist übrigens Cyberwar: Was passiert bei einem ausländischen Angriff auf unsere IT-Sicherheitsstruktur? Im neuen NDG ist unter anderem vorgesehen, dass die Schweiz Cyberwar führen darf. Das ist angesichts unserer Neutralität äusserst brisant und wir kämen damit in Teufelsküche. Was heisst es überhaupt, einen Cyberwar zu führen? Attackiert die Schweiz dann einen anderen Staat im digitalen Raum? Das wird momentan überhaupt nicht diskutiert, obwohl es weitreichende Implikationen hätte.

Sie engagieren sich sehr stark für Internetfreiheit und Privatsphäre. Warum?

Freiheit ist die Grundlage für unser Staatswesen, sie garantiert Lebensqualität und Rechtssicherheit. Ich setze mich als Teil der Digitalen Gesellschaft dafür ein, weil sich unser Alltag immer mehr in den digitalen Raum verschiebt.

Viele Datenschutz-Kritiker argumentieren fundamental, Ihre Antworten klingen hingegen pragmatisch.

Als Rechtsanwalt fordere ich immer, dass ein Sachverhalt erstellt ist, dass man Behauptungen mit Fakten unterlegen kann. Im Bereich der Geheimdienste fehlen mir genau diese Fakten, die etwas beweisen können. Mehr Sicherheit ist ein hehres Ziel, aber man muss prüfen, wie man dahin kommt. Wenn man aber Mittel vorschlägt, die garantiert nicht zu mehr Sicherheit  führen, sondern eher noch Kollateralschäden wie Menschenrechtsverletzungen mit sich bringen, dann ist für mich Schluss.

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Weitere Texte zum Thema Überwachung finden Sie in unserem Dossier.

Gegendarstellung des VBS
In einem Interview mit der TagesWoche vom 1. Februar 2015 behauptet Herr Martin Steiger, Datenschutzexperte, es gebe weder eine wirksame Aufsicht noch eine Erfolgskontrolle im Hinblick auf den Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Diese Ausführungen sind falsch. Vielmehr wird der NDB von mehreren externen Organen (Nachrichtendienstliche Aufsicht des Departements VBS, Unabhängige Kontrollinstanz, Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten, Finanzkontrolle im Auftrag der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte) intensiv kontrolliert.

Peter Minder, Chef Kommunikation VBS, Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS

Artikelgeschichte

Dieser Artikel wurde am 3.2.2015 um eine Gegendarstellung des VBS ergänzt.

Am 4.2.2015 wurden Angaben zur Person angefügt.

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